Hyliker, Psychiker und Pneumatiker

 

Valentinus ( nach 160) war der Gründungsvater einer der einflussreichsten und verbreitetsten gnostisch-christlichen Bewegungen der Antike. Seine Schüler verbreiteten seine Lehren und die von ihnen selbst erweiterten und umgeformten Auffassungen im Bereich des gesamten römischen Reiches und darüber hinaus. Die Geschichte der antiken Gnosis lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Sie entstand im ersten Jahrhundert und verschwand nach vorangehenden Auflösungserscheinungen im siebten Jahrhundert als geschichtlich nachweisbare Bewegung. Die Existenz von Valentinianern ist auch bis ins siebte Jahrhundert belegt.

 

Ihnen wird nachgesagt, dass sie die Menschen in drei Gruppen eingeteilt haben sollen. Sie unterschieden demzufolge „Hyliker“, „Psychiker“ und „Pneumatiker“. Hyliker (Hyle = griechisch Stoff, Materie) würde man heute als Materialisten oder Weltmenschen bezeichnen. Psychiker waren ihrer Ansicht nach Menschen, die zu Glauben und sittlicher Einsicht fähig sind, aber nicht zur Erkenntnis Gottes. Ausschließlich den Pneumatikern (Pneuma = griechisch Hauch, Wind oder Atem) schrieben die Valentinianer den Zugang zu höchstem Wissen und direkter Gotteserkenntnis zu.1 Diese Einteilung ist aber letztlich zeitlos und allgemeingültig. Es fällt nicht schwer, die drei Gruppen in der Gegenwart wiederzufinden. Wir können also durch die Brille der Gnosisbetrachtung auf andere Bereiche in Vergangenheit und Gegenwart schauen.

 

Als das Christentum entstand - und über die ersten 50 Jahre nach Christi Tod wissen wir nichts Sicheres - bildeten die christlichen Psychiker und Pneumatiker praktisch eine Einheit. Über die prozentuale Verteilung können wir wenig sagen, aber es hat wohl schon früh eine Tendenz zugunsten der Psychiker gegeben, da sie einfach die größere Gruppe Interessierter gebildet haben dürften. Gesellschaftlich vorherrschend waren jedoch die staatstragenden Kräfte Roms, die in einem nicht atheistischen Sinne Hyliker waren, aber durch ihre weltzugewandte Grundhaltung als solche betrachtet werden können. Ich opfere dem Neptun eine Henne und er lässt mich meine Seereise unbeschadet überstehen. Das ist eine sehr weltliche Form von Religiosität, eine hylische Form. Mit dieser Gruppe sollte das frühe Christentum bald in Konflikt geraten.

 

Aber auch intern wurden die Konflikte zwischen Psychikern und Pneumatikern größer. Einerseits waren die Pneumatiker eine starke Inspirationsquelle für das Christentum und andererseits waren die Psychiker für die Pneumatiker ein Anlass, permanent darum zu ringen, sich verständlich zu machen - also Schläfer zum Erwachen anzuregen. Dadurch verschafften sie sich wiederum selber größere Klarheit. Doch gleichzeitig nagte etwas am guten Verhältnis zwischen Psychikern und Pneumatikern. Die Pneumatiker beharrten darauf, das es ein tieferes, spirituelles Verständnis der christlichen Botschaft gäbe, das man sich erarbeiten müsse und das man haben könne, wenn man nur richtig wolle. Und die Psychiker schufen sich nach und nach eine Theologie, die es ihnen ermöglichte, in ihrem Psychikerglauben zu verharren und sogar die pneumatischen Positionen als ketzerisch zu brandmarken. Der Mechanismus dahinter ist einfach. Nur wenige Menschen haben die Reife und Stärke, sich vorhalten zu lassen, dass sie bestimmte Aussagen und Zusammenhänge nicht verstehen würden. Nicht viele reagieren auf solch eine Vorhaltung mit intensiviertem Forschen und Mühen. Die meisten Menschen reagieren darauf mit Abwehr, selbst wenn die Aussage möglicherweise oder offensichtlich richtig ist.

 

Schon im zweiten Jahrhundert begann sich die sogenannte Alte Kirche2 organisatorisch und theologisch zu festigen. Die Gnostiker wurden mehr und mehr als Häretiker ausgegrenzt. Dadurch wurden sie gezwungen – obwohl sie sich selber als Christen begriffen und sich auch so nannten – eigene Gruppen und Organisationen zu bilden, die in zunehmender Konkurrenz zur Mainstream-Kirche standen. Als Kernzeit der eigentlich für beide Seiten auf ihrem jeweils eigenen Gebiet fruchtbaren Auseinandersetzung kann man die Zeit zwischen 150 n. Chr. und 250 n. Chr. ansetzen. Bei den Christenverfolgungen von staatlicher Seite wurde aber nicht zwischen den christlichen Gnostikern und anderen Christen unterschieden.

 

Beim Aufbau ihrer Theologie orientierte sich die Alte Kirche einerseits mehr und mehr an der platonischen Philosophie und baute andererseits gnostische Positionen in ihr Glaubenssystem ein. Durch weniger striktes und weltabgewandtes Auftreten als die Gnostiker, war die Alte Kirche für eine breitere Basis attraktiv. Hier entschied sich die Alte Kirche gegen die Spiritualität der Pneumatiker für die Stärkung der eigenen Psychiker-Position und das Sich-Andienen gegenüber den Hylikern, die ja auch auf einfachen Niveau durchaus „religiöse“ Bedürfnisse haben können. Man kann das mit der heutigen Situation der Großkirchen vergleichen.3 Mit dem Verbot der heidnischen Kulte im Jahre 354 n. Chr. und der Erklärung des Christentums zur Staatsreligion 380 n. Chr. kam die Kirche schließlich endgültig in die Position, mit der „ungeliebten Schwester Gnosis“4 aufzuräumen.

 

Schauen wir uns einmal die Dynamik der Gruppen untereinander an. Jede Gruppe wird das Bestreben haben, sich zu behaupten. Die Gruppe der Pneumatiker wird dies berechtigterweise nur durch den tatsächlichen spirituellen Wert ihrer Lehren können, da sie getreu der 95%-Regel die kleinste Gruppe darstellen. Als abwärtsgerichtete Auflösungstendenz könnte man Teile der Psychiker annehmen, die die Inhalte der Pneumatiker für sich beanspruchen, ohne sie tatsächlich zu repräsentieren – oder aber Teile der Pneumatiker, die sich in Selbstüberschätzung verstricken und dadurch zu Psychikern herabsinken.

 

Das Wechselspiel zwischen Psychikern und Hylikern hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab. Die Vorgaben können variieren zwischen theokratischen, materialistischen und nominell „offenen“ Gesellschaften – und allen Kombinationsformen dieser drei. Generell aber kann man sagen, dass die latente Versuchung für die Psychiker immer ist, sich in den Dienst der Masse zu stellen, um eigennützige materielle Vorteile daraus zu ziehen. Dies bewirkt ein Absinken und macht den Psychiker selber zum Hyliker. Andererseits sind die Psychiker durch pneumatische, spirituelle Inhalte grundsätzlich erreichbar. Auch die Kirche hat diese ihr selbst innewohnenden Inhalte nie völlig verdrängen können oder wollen. Durch alle Jahrhunderte hindurch hat es in ihr und auch in allen anderen organisierten Religionen immer wieder große Pneumatiker gegeben, die sich allerdings durch organisatorische Unterordnung in den psychisch-hylischen Überbau haben einbinden lassen müssen. Entweder haben sie das zu Lehrzwecken billigend in Kauf genommen, oder sie haben dies aus einer Tendenz zum Absinken heraus getan. Wir vermuten aber, dass letzteres nur selten der Fall war.

 

Hyliker haben wie gesagt einfache religiöse Bedürfnisse. Sie sind eher kulturell begründet und haben sich in rein materialistischen Gesellschaften ohne große Probleme auf areligiöse Zeremonien übertragen lassen. Ansonsten ist man eben beispielsweise evangelisch, weil man so getauft wurde und weil schon die Eltern evangelisch waren.

 

Wozu aber diese Überlegungen? Am Beispiel der antiken Gnosis kann man generell die gesellschaftlichen Dynamiken verstehen (groken) und sehen, warum es (auf absehbare Zeit) keine idealen Endzustände gibt. Das Ganze ist ein offenes, multidirektionales System, das sich sich wandelnd durch die Zeit bewegt. Millionen werdende, bestehende und vergehende Wesen lassen Stabilität nicht entstehen. Aber besonders faszinierend ist, das wir erkennen können, dass die individuellen Dynamiken von Einzelpersonen sich direkt auf Gesellschaften übertragen lassen. Das heißt: Von weit genug oben betrachtet wirkt die Dynamik innerhalb einer Gesellschaft genauso wie die innerhalb einer Person. Auf beides schauend können wir über beides etwas lernen.

 

Der Hyliker und der Psychiker entsprechen dem grobstofflichen und dem psychonoetischen Körper und seinen Bedürfnissen. Der Pneumatiker stellt das höhere Selbst beim Versuch dar, die Alltagspersönlichkeit zu dominieren. Der „innere Hyliker“ korrumpiert den „inneren Psychicker“ durch die von ihm selbst repräsentierte animalische Ebene, durch grobstoffliche Bedürfnisse. Sich selbst korrumpiert der „innere Psychiker“ durch seine wellness-esoterischen Bedürfnisse, Wohlfühlen, schöne Gedanken machen, sich für besonders und besser halten – und nicht zuletzt, durch sein Andienen an den „inneren Hyliker“. Die Chance des „inneren Psychikers“ ist, dass er sich statt nach unten, nach oben ausrichtet und beginnt, auf den „inneren Pneumatiker“ zu hören und der Versuchung zu widerstehen, immer wieder zu versuchen, ihn in sich selber zu integrieren. Der „innere Pneumatiker“ kann nicht zum Knecht des „inneren Psychikers“ werden. Sobald man das versucht, wird er selbst zum „inneren Psychiker“. Immer sollte der „innere Psychikers“ der Diener des „inneren Pneumatikers“ bleiben. Der „innere Psychiker“ muss sich ganz und ausschließlich in den „inneren Pneumatiker“ integrieren. Nur darin kann er seine Freiheit gewinnen. Des Dieners Diener ist des Herren Herr.

 

 

1Überliefert ist dies - wohl resultierend aus dem Unverständnis der Überlieferer - als starres System, uns scheint es aber wahrscheinlicher eine Augenblicksbeschreibung mit fließenden Übergängen gewesen zu sein (siehe hierzu die Betrachtung „Tote, Schläfer und Erwachte“).

2Für die westliche Kirche die Kirche bis zum Untergang des (west-)römischen Reiches.

3Das teils tiefe religiöse Leben der einfachen Kirchenmitglieder findet man in ihnen kaum noch. Die Kirchen sind in erster Linie karitative Organisationen, die Rentner-Kaffee-Treffen, Babykrabbelgruppen und konfessionelle Kindergärten betreiben und lediglich zu Weihnachten, zu Ostern oder bei der kirchlichen Trauung den stimmungsvollen Hintergrund für das Leben der Weltmenschen bieten. Dafür bringen diese als Gegenleistung die Kirchensteuer in die Kassen der Kirchen. Ein typisches Hyliker-Arrangement. Auch die kirchliche Hierarchie stellt lediglich einen quasi-beamteten Hyliker-Apparat dar. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es kaum noch „berufene“ Priester.

4Kurt Rudolph