Missverständnisse über spirituelle Meister

 

 

Der Meister saß bewegungslos und schaute streng. "Ich werde Deine Erleuchtung nicht anerkennen - was sagst Du nun?"

"Jede Erleuchtung ist ihre eigene Anerkennung," entgegnete der Schüler. "Würde ich Deine Anerkennung brauchen, hätte ich die Erleuchtung nicht."

"Wenn das so ist," lächelte der Meister dem Schüler milde zu, "erkenne ich sie an!"

 

 

 

Wenn für einen Menschen die Suche nach höheren Wahrheiten beginnt, dann stürzt er sich oft mit großem Eifer in diese Suche hinein. Ein wichtiger Garant des Erfolges seiner Suche scheint ihm zu sein, dass der Lehrer oder Meister, den er sich aussucht, einen möglichst hohen Grad hat. Er denkt, dass er umso schneller Fortschritte macht, je "höher" die Informationen sind, die er von diesem Lehrer bekommt. Ja, er glaubt vielleicht sogar, dass er allein durch den Erhalt der Information schon entsprechend weit gekommen wäre.

 

Das hat auf der einen Seite etwas rührend Infantiles. Es ist, als ob die Kinder einer Vorschulklasse einen altgedienten Universitätsprofessor für Unterricht in Quantenphysik suchen. Wie gesagt rührend - aber sinnlos! Auf der anderen Seite liegt eine große Gefahr dieser Art Suche. Viele Blender und Scharlatane machen sich den Wunsch der Suchenden nach hoher Anleitung zunutze, indem sie zu ihrem eigenen, egoistischen Vorteil Meister simulieren. Das gelingt oft geradezu absurd leicht, denn ein Vorschulkind hat ja auch keine Kriterien, mit denen es einen Professor von einem Schauspieler unterscheiden kann. So sind die Sucher verführbar - besonders wenn sie schnelle, bequeme Fortschritte erhoffen. Dazu kommt dann noch der tatsächlich große aber notgedrungen oft flache Enthusiasmus der "Schüler".

 

In Wirklichkeit sind diese Dinge anders und auch leicht nachvollziehbar eingerichtet. Als konkretes Beispiel mag die Organisation der Grade in den Budo-Systemen dienen - also in den Kampfsportarten wie Judo oder Karate. Dort gibt es eine Anzahl von Schülergraden und im Anschluss daran eine Reihe von Meistergraden, deren höchste gar nicht durch Technik zu erwerben sind, sondern nur verliehen werden können. Einen wesentlichen Teil des Unterrichts der einzelnen Grade bestreiten Inhaber der jeweils nächsthöheren Grade. Selten wird ein hochgradiger Meister in die Ausbildung niedriger Schülergrade direkt eingreifen. Zudem werden besonders die niedrigen Schülergrade beinahe ausschließlich mit der Vermittlung von Techniken geschult und nur sporadisch durch tiefergehende Informationen "ausgerichtet". Die höchsten Meistergrade zeichnen sich dagegen geradezu durch Überwindung der Technik, durch Loslassen der Technik aus. Erst hier wird wahre Freiheit erlangt. Erst hier wird Üben durch Tun bzw. Sein ersetzt.

 

Ob wir es mögen oder nicht, ob wir uns etwas anderes wünschen oder nicht, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, in den Bereichen der spirituellen Entwicklung ist es genauso. Alles andere ist Wunschdenken und Illusion. Zwar erscheinen auch hier hin und wieder hohe Meister und Eingeweihte, aber sie sind für die niedrigen Grade nie dauerhaft zugegen. (Wo etwas anderes vorgegaukelt wird nimm dich in acht!) Der Schüler wird immer mit technischen Anleitungen nach Hause geschickt. Dort stehen in der Regel Mitschüler seines Grades und Fortgeschrittenere bereit, die Austausch, Information und angemessene Inspiration ermöglichen. Außerdem wird er, wenn er nicht ein völliger Anfänger ist, in die Verpflichtung genommen, sein bereits erworbenes Wissen an Interessierte weiterzugeben, denn lernen bedeutet immer auch lehren lernen.