Die Welt über der Welt

 

Unscheinbar werden heißt das Scheinbare ablegen und tatsächlich werden.

(Das Buch der drei Ringe)

 

 

„Zutiefst überwindenswert scheint mir die Welt über der Welt.“ Mit dieser Aussage leitete der Meister das „Ernste Gespräch“ zwischen sich und dem etwas schüchtern dreinblickenden Volontär (hier Freiwilliger im Sinne eines Grades der Annäherung an die „Eine spirituelle Gemeinschaft“) ein. Gerade noch waren sie in gelöster Stimmung den Weg zum Meditationshäuschen heraufgeschritten. Doch selbst dabei hatte sich schon ein mulmiges Gefühl im Magen des Schülers aufgebaut. Nicht, dass er etwas zu fürchten hätte, aber wie beinahe jedes Mal, wenn er zum „Beisammensein von Herz und Herz“ (wie das „Ernste Gespräch“ auch genannt wurde) mit dem Meister gebeten wurde, konnte der Schüler das Gefühl eines dunklen Schreckens nicht vermeiden. Er hatte es schon als einen panischen Ausdruck der Alltagspersönlichkeit vor dem möglichen Zerschlagenwerden zu definieren versucht. Trotz der erwiesenen Unsinnigkeit dieser Annahme schlich sich das Gefühl immer wieder ein. Er hatte es wohl immer noch nicht richtig eingeordnet.

 

Jetzt saß er schon wieder in der Falle. Was sollte er auf die Feststellung des Oberen erwidern? Die beiden saßen nebeneinander im Meditationsraum und blickten durch die aufgeschobenen Glastüren hinaus in den Garten. Vor ihnen stand eine Kanne Tee und zwei Schälchen, in denen ein angenehm aromatisch duftender grüner Tee dampfte. Die Frau, die ihnen auf dem Weg entgegengekommen war, hatte wohl alles bereitgestellt.

 

„Aber ist nicht die Welt über der Welt ein höherer Ort? Was sollten wir da überwinden? Geht es um unsere Ausrichtung oder unsere Hoffnung?“ Der Volontär hatte es nicht mehr ertragen und einfach etwas Naheliegendes gesagt. Er wusste schon, dass er nicht so einfach davonkommen würde. Immerhin ein Stichwort für den Meister.

 

Der lächelte. „Ja, ganz recht! Üblicherweise weisen wir den Gegensatzpaaren Wertungen zu. Hell-dunkel, groß-klein, aktiv-passiv, schnell-langsam, oben-unten usw. empfinden wir dabei immer als gut-schlecht. Die meisten Gegensätze sind aber an sich nur wertfreie Gegensätze. Die Wertung entsteht nur durch die eingenommene Perspektive und ist meistens auch bezüglich des Mittelpunktes höchst egozentrisch. So werden wir drei Grad minus als kalt und 25 Grad plus als warm bezeichnen. Ein Eskimo wird vielleicht 40 Grad minus als kalt und 3 Grad plus als warm empfinden. Wenn die Maus klein ist, was ist dann die Ameise? Winzigklein? Und was ist dann mit der Amöbe?“

 

Der Volontär überlegte. Dann überlegte er, dass er überlegte – und als ihm die Bedeutung des Wortes klar wurde wandte er sich an den Meister: „Meinst du, dass die Welt über der Welt das ist, was jeder Einzelne an Einstellungen, Meinungen und Perspektiven über die tatsächliche Welt legt?“

 

Der Meister sprang auf, griff in das Regal neben der Tür und trat auf den Vorplatz. Er steckte den Gegenstand aus dem Regal in den Mund und erzeugte damit ein jämmerliches, durchdringendes, albernes Tröten. Es war eine dreiteilige und dellige Fahrradhupe ohne den Gummiball zum Hupen. Von unten vom Haupthaus her erscholl Jubel. In dem Augenblick fiel alles von dem Volontär ab. Alles wurde klar und er fühlte eine überwältigende Heiterkeit, als der Meister wieder hereinkam und sich neben ihn setzte. Forschend blickte er ihn an, als er seufzend die kaputte Fahrradhupe neben sich legte. „Warum hast du getrötet?“ fragte der Volontär.

 

„Wegen dem, was danach geschehen würde.“

 

„Was geschieht denn?“

 

„Sage du es mir.“

 

Der Schüler überlegte diesmal nicht. „Das feste Gewebe über der Welt ist in Wahrheit immer nur ein weitmaschiges Netz. Es ist eine Gehirnleistung, dass es aus einer Anzahl Knoten ein scheinbares Gewebe entstehen lässt – so wie es beim Blinzeln nicht dunkel zu werden scheint, so wie wir den blinden Fleck auf unserer Netzhaut nicht als Sehmangel wahrnehmen und wie wir einen Raum um uns herum komplett zu schauen glauben, obwohl wir immer nur auf einzelne Punkte blicken. Der Raum über dem Netz und die Welt unter dem Netz sind ungetrennt und klar. Ich bin nicht nur der Sehende sondern hauptsächlich das Sehen und dann auch das Gesehene.“

 

„Nun,“ sagte der Meister, „wenn es so ist, wozu die jahrelange Übung?“

 

„Die Welt ist wie sie ist, ungeteilt im strahlenden Licht. Wir verschatten sie, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten und beginnen, durch Vorlieben und Abneigungen zu werten. Wie ein Tuch legt sich diese falsche Art der Aufmerksamkeit über die wirkliche Welt und macht sie für uns selber unkenntlich. Schließlich nehmen wir allein das Tuch wahr und können nur noch wenige Aussagen über die Welt machen – nur dort, wo sich Konturen unter dem Tuch abzeichnen, können wir aus ihnen ableiten, was sich darunter befindet. Wir können aber auch total daneben liegen. Suchende und Wahrheitsforscher bemerken früher oder später ihre Getrenntheit und beschreiten einen doppelten Weg. Sie versuchen das Tuch zu durchdringen und gleichzeitig versuchen sie, das Gewebe zu weiten – also die Abstände zwischen den Fäden zu vergrößern und in ihm das Netz zu erkennen, das es eigentlich ist. Letzteres ist die regelmäßige spirituelle Übung, ersteres ist mir soeben widerfahren.“

 

Der Volontär fühlte sich immer noch heiter und leicht, jedes mulmige Gefühl war von ihm gewichen. Der Meister schob die Tröte neben sich zurecht und lächelte. Er fragte: „Gibt es denn ein Netz?“

 

Der Schüler schüttelte den Kopf und lächelte zurück. Dann sagte der Meister: „Das ist ein Anfang.“

 

Beide tranken ihren Tee.