Die Gurke
"Auch ein Narr hält sich für klug."
oder
"Der Fluch unserer Krankheit ist, dass sie uns unser Kranksein nicht erkennen lässt."
Das wird wohl jeder unterschreiben, der ein wenig nachdenkt, aber es steckt ein tiefes spirituelles Gesetz in dieser Aussage. Sie betrifft nämlich nicht nur den offensichtlichen Narren, sondern jeden von uns. Oder anders herum ausgedrückt, praktisch jeder von uns ist mehr oder weniger ein Narr, denn es gibt in der Alltagspersönlichkeit jeder „normalen“ Person diverse Bereiche, in denen die Begrenzungen bewirken, dass sie diese Begrenzungen nicht wahrnehmen kann. Ein entwickelter Meister drückte es einmal recht drastisch so aus:
"Besonders am Anfang der bewussten spirituellen Entwicklung ist es für den Werdenden oft nicht leicht, das Treiben seiner Mitmenschen zu betrachten und auszuhalten. Anfangs erkennt er bei anderen Menschen nur leichter, was er bei sich selber nicht so leicht bemerkt. Später, wenn er bei sich selber schon begonnen hat, Aspekte seiner Alltagspersönlichkeit bewusst zu modifizieren, erscheinen ihm die Mitmenschen vielleicht in vielem noch grotesker. Dabei ist auch er durch die eigenen Mängel in seiner Wahrnehmung noch stark eingeschränkt und dadurch vom Erkennen der wahren Ausmaße von Ignoranz und wirklich unsinnigem Verhalten weit entfernt. Trotzdem ist es für ihn, als habe er mit lauter Menschen zu tun, die nackt, mit rot angemaltem Gesicht, kikeriki-schreiend, mit einer Gurke im Hintern, auf allen Vieren um einen herumkrabbeln würden und dabei so täten, als wäre alles völlig normal. Ganz zu schweigen von den Vielen, die herumlaufen und laut über das „Kikeriki“ oder die Gurke lamentieren, sie anprangern und auf das Schärfste verurteilen. Dabei schreien sie „I-ah“ oder haben eine Banane dort, wo sich sonst die Gurke befindet. Ich kann euch sagen, es ist sogar noch viel schlimmer. Allerdings wird es mit voranschreitender Entwicklung leichter erträglich."
Wohl oder übel steht am Beginn aller spirituellen Praxis die Einsicht, dass eben nicht alles normal ist - und zwar vor allem bei einem selber. Erst wenn wir diesen kritischen Abstand zu unserer Alltagspersönlichkeit einnehmen, können wir zunehmend genauer aus der Perspektive des höheren Selbstes heraus unsere eigene Befindlichkeit analysieren. Dann können wir manche Gurke bei uns selber entfernen und manches „Kikeriki“ unterlassen. Aber der Irrsinn um uns herum wird dadurch nur noch deutlicher und ein Teil der spirituellen Arbeit besteht tatsächlich darin, zu lernen, diesen Irrsinn auszuhalten und Wege zu finden, möglichst konstruktiv damit umzugehen.