Warum ein spiritueller Lehrender sich selbst nicht als Lehrer oder Meister bezeichnen sollte.
Ein spiritueller Weg ist kein Abschlusszeugnis, sondern eine fortlaufende Reise. Selbst wenn jemand jahrelang studiert, meditiert, Erfahrungen gesammelt oder Schülerinnen und Schüler begleitet
hat, bleibt er in vieler Hinsicht ein Lernender. Den Begriff “Lehrer” oder noch stärker “Meister” zu verwenden, kann diese fortlaufende Natur des Weges unnötig verengen und einen Eindruck
erzeugen, dass der Wissensspeicher bereits vollständig und abgeschlossen sei. Doch Spiritualität ist kein statischer Zustand, sondern ein sich ständig wandelndes Drängen zu tieferem Verstehen, zu
wachsamerer Wahrnehmung und zu mehr Mitgefühl. In diesem Licht ist es sinnvoller, sich als “lehrender Mitschüler" zu verstehen, der eine Rolle als Begleiter innehat, ohne sich dabei endgültig zu
fixieren.
Wenn derjenige, der spricht, sich selbst als Lehrer oder Meister bezeichnet, könnte das von Schülern als Autoritätsposition interpretiert werden. Autorität kann hilfreich sein, doch in
spirituellen Kontexten birgt sie auch die Gefahr, Lernprozesse zu begrenzen. Schüler könnten das Vertrauen in eigene Einsichten verlieren oder sich zu stark auf den Lehrenden statt auf die eigene
innere Erkenntnis fokussieren. Indem man Wortsatz und Sprache vorsichtiger wählt, lässt sich eine Lernumgebung schaffen, in der Selbsterkenntnis zentral bleibt.
Ein echter Wegbegleiter erkennt, dass er selbst nur ein Schritt auf des anderen unendlichem Pfad der Erkenntnis ist. Selbst wenn jemand graduellen Wissensvorsprung hat, bedeutet das nicht, dass
sein Verständnis endgültig ist. Die Haltung eines fortwährenden Lernens ermutigt sowohl den Lehrenden als auch die Lernenden dazu, offen zu bleiben für das, was jenseits des Gewohnten liegt. Wer
sich als ständiger Schüler begreift, wahrt die Spannung des Wachstums und verhindert, in eine Selbstgefälligkeit abzurutschen.
Ein “Lehrer” kann unbewusst Narrative kultivieren, in denen Zweifel als Schwäche erscheinen. Wenn stattdessen das Zwiegespräch als gemeinsamer Entdeckungsprozess verstanden wird - bei dem der
Lehrende sich auch selbst in Frage stellt, Hindernisse und neue Einsichten erlebt - wird eine authentische Erfahrungswelt geschaffen, in der Lernen als wechselseitiger Prozess anerkannt wird.
Diese Offenheit erleichtert es den Lernenden, eigene Einsichten zu entwickeln, statt nur zu kopieren.
Ein Lehrender trägt Verantwortung dafür, dass Inhalte korrekt, verantwortungsvoll und sensibel vermittelt werden. Wenn jedoch die Bezeichnung “Lehrer” als Autoritätsstatus verstanden wird, kann
diese Verantwortung verengt oder missverstanden werden. Eine Rolle als “Begleiter” oder “Mentor” signalisiert eher eine unterstützende Position, die den Lernprozess des anderen stärkt, ohne ihn
zu dominieren.
In vielen spirituellen Traditionen wird der Wert der Überschreitung eigener Grenzen betont. Die Bezeichnung “Lehrer” kann diesen Prozess der Überschreitung behindern, indem sie eine Grenze
zwischen einem selbst und den anderen zieht. Ein “Lehrender” bleibt im Fluss der Entwicklung, erkennt andererseits Grenzen an und respektiert, dass jeder seinen eigenen Rhythmus hat.
Es ist also sinnvoll, sich selbst als Mitschüler (Schülerlehrer/Lehrerschüler) zu sehen, nicht als Lehrer oder Meister. So wird die Dynamik eines offenen, gemeinschaftlichen Suchprozesses bewahrt, Selbstreflexion gefördert, und die Lernenden ermutigt, eigenständige Einsichten zu gewinnen. Einzelne Wörter erscheinen klein, doch sie formen die Haltung: Wer sich selbst als lehrenden Mitschüler versteht, bleibt ein fortlaufender Schüler des Absoluten - und damit bleibt auch der Weg, der Horizont, unendlich.
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