Wortkarg

Ein Chassid aus Schargorod hatte das Zeitliche gesegnet und kam in den Himmel. Dort erblickte er sogleich eine große Schar von Engeln, die Richtung Erde schauten und gebannt auf etwas lauschten. Neugierig geworden näherte er sich ehrfürchtig den himmlischen Bewohnern und fragte, was denn so da unten geschehen würde. Einer sagte zu ihm leise: "Wir hören gerne den ausführlichen Botschaften eines jungen Rabbi zu."

Der Chassid drehte sich um und dachte bei sich: "Unser Schargoroder Rabbi wird es wohl nicht sein."

Auf einmal spürte er die gesammelten Blicke aller Engel auf seinem Rücken. Wie angenagelt blieb er stehen. Umzuwenden brauchte er sich nicht - die Engelschar stand schon im Nu vor ihm und mehrere Stimmen erwiderten: "Sei versichert, es ist dein Rabbi Jakov ben Katz!"

Der Chassid musste angesichts solcher Entschiedenheit seine ganze Mut zusammennehmen und erwiderte den Engeln fast trotzig: "Zeit meiner zugegeben nicht langen Hörerschaft bei dem Rebben habe ich von ihm sehr sparsame Ausführungen und Belehrungen gehört. So etwa wie 'Der Liebe ist die Liebe genug' oder 'Der Grund, den Herren zu verehren, ist der Herr selbst' oder noch eins 'Die einzige Bedingung ist, ohne Bedingung zu lieben.'"

Die Engel aber sprachen gütig zu dem Mann: "Hinter kurzen Worten, die einem Weisen wohl genügen, verbirgt sich die ganze herrliche Wahrheit, denn ein Weiser erkennt und schaut mit seinem Herzen. Wisse, wir vernahmen eben die wunderbar reiche Sprache seines Herzens!"

Das traf den Chassiden wie ein Blitz. Er fiel auf die Knie und bat die Engel, ihn so schnell wie es nur geht, wieder auf die Erde, nach Schargorod, zu schicken. Das wurde ihm gewährt...

Nach vielen Jahren erzählte man sich in Schargorod, dass ein Enkel des besagten Chassiden gar keine Worte der Belehrung mehr von dem Rebben brauchte: Die beiden Männer saßen öfters beisammen und schwiegen vielsagend miteinander.

(Ruth Finder)

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Kommentare: 2
  • #1

    Diana (Samstag, 03 Mai 2025 09:11)

    Eine sehr gute Geschichte, vielen Dank, RuFi :-)

    Warum?
    Weil sie verdeutlicht, dass

    … wir mit so viel Wissen konfrontiert sind/werden, ohne es zu merken, ohne es zu nutzen.

    … wir dafür sehr dankbar sein müssen, mit der Wahrheit direkt konfrontiert zu werden. Wie viele unzählige Leben haben wir im Schlamm gelebt und gewühlt, ohne einen Ausweg zu sehen?

    … unser Eigenwille uns maßgeblich im Weg steht, das vorhandene/gegebene Wissen zu nutzen („ist mir nicht umfangreich genug, falsche Form, man muss es mir verständlicher machen, ich werde von der Weisheit/Lehrern missachtet, nicht genug gefördert, man sieht meine Leistung nicht, ich müsste mehr bekommen, etc.“)

    … wir Vertrauen haben müssen, dass uns das Wissen zur rechten Zeit in der rechten Form über passende Kanäle zugängig gemacht wird, so wie wir es TATSÄCHLICH (in nicht in unserer Einbildung) nutzen können. Wir (Ego) haben lange keinen Überblick über das, was für uns gut ist, aber die Seele (Höheres/Wahres Selbst) wird geführt und geleitet, sich das nach und nach zu erarbeiten.

    … wir uns Wissen erarbeiten müssen, d.h. bemühen, das in einer bestimmten Form gegebene Wissen anzunehmen, zu kauen, zu verdauen, in uns arbeiten und sich bewegen lassen. Das ist nicht möglich, wenn wir es von vornherein als unverständlich/falsch ablehnen.

    … wir all den „Engeln“ und Wesen um uns (Lehrer, Weggefährten, andere Menschen und Situationen, die uns etwas näher bringen) dankbar sind, weil sie Mittler der Lehre und Gottes sind, egal wie weit oder fern sie im Alltag manchmal der Lehre leben. Statt dessen maßen wir uns oft an über andere zu urteilen, ohne selbst im geringsten diesen Urteilen zu entsprechen.

    … egal, wie sehr wir uns in unseren Ansichten, Denkweisen, Ausdrucksweisen, Haltungen etc. geirrt haben, JEDERZEIT umkehren können. Ein aus egoistischer Sichtweise erlebter Gesichtsverlust ist unbedeutend angesichts der Freude, wenn ein verirrtes Schaf den Weg wieder gefunden hat und ihn weitergeht. Es ist ein wichtiger Schritt in der Meisterung des Egos, sich Fehler und Irrtümer einfach einzugestehen und die erforderlichen Schritte zu gehen.

    ... wir die Chance, die wir JETZT, JETZT, JETZT.... haben, nutzen müssen, wann sonst?

    … vielsagendes Schweigen die bessere Alternative zu nichtssagendem Reden ist. Aber daran müssen wir erst einmal arbeiten...

  • #2

    Ruth Finder (Samstag, 03 Mai 2025 10:14)

    #1: Mit Freude gelesen und habe schön gestaunt, wie die Geschichte ihren Sinn in dieser Deutung entfaltet.