Traktate und Predigten

In der Übernahme von Vorstellungen, die aus der Mysteriensprache der Antike stammen, unterschied man den Dreischritt, der von der Reinigung über die Erleuchtung und schließlich zur Einung in Gestalt der ersehnten »unio mystica« führt. Diese Vorstellung einer Stufenfolge machte sich u.a. Dionysius Areopagita zu eigen, der von Eckhart hochgeschätzte, von ihm mehrfach zitierte »Vater der abendländischen Mystik«. Dennoch sah Eckhart seine Aufgabe nicht darin, auch seinerseits Formen und Weisen der spirituellen Praxis anzugeben, wie man auf dem inneren Weg, auf dem Weg der mystischen Erfahrung vorankommen könne. Methodische Anleitungen, wie sie von einem Meister des inneren Weges zu erwarten wären, sucht man in seinen Schriften vergebens. Hatte Eckhart schon in seinen »Reden der Unterweisung« davon gesprochen, daß das Heil des Menschen nicht an eine bestimmte »Weise« gebunden sei, so begegnet man auch im späteren Predigtwerk Äußerungen, mit denen er seine Skepsis hinsichtlich des angeblich Machbaren oder methodisch Erreichbaren zum Ausdruck bringt. Einmal sagt er nachdrücklich: »Gott muß man nehmen als Weise ohne Weise und als Sein ohne Sein, denn er hat keine Weise. Daher sagt Sankt Bernhard: Wer dich, Gott, erkennen soll, der muß dich messen ohne Maß.« Dem »Weiselosen« gibt Eckhart somit bei weitem den Vorzug.

In dem uns vorliegenden Text »Vom edlen Menschen« weicht aber der Prediger von seiner eigenen Praxis ab und nennt eine Folge von Stufen der spirituellen Entwicklung; es sind ihrer sechs, die sich auf das Werden des inneren Menschen beziehen: Unter Berufung auf den Kirchenvater Augustinus bezeichnet er als die erste Stufe jene, bei der der Mensch noch ein Anfänger ist. Er kann noch nichts von sich selber tun, weshalb er auf Vorbilder in Gestalt geistlicher Lehrer angewiesen ist, an deren Leben und Tun er sein eigenes ausrichten kann. Das entspricht dem Stadium der Nachahmung. - Auf der zweiten Stufe bleiben diese Vorbilder zwar immer noch wichtig, aber eine Eigenbewegung ist dem Anfänger, der Anfängerin schon möglich. Es ist eine innere Kehrtwendung, ausgedrückt durch das Wort: »Er kriecht der Mutter aus dem Schoß und lacht den himmlischen Vater an.« - Damit ist drittens ein Prozeß der Schritt um Schritt zu vollziehenden Ablösung eingeleitet. Sie läßt sich mit dem Weggang von der Mutter vergleichen. Diesen Menschen erfüllt eine »eifrige Beflissenheit« und ein Streben, in Liebe mit Gott verbunden zu werden.  Dieser Vorgang läuft auf eine zunehmende Intensivierung hinaus, die viertens einer Verwurzelung »in der Liebe und in Gott« gleichkommt. Alles Widerwärtige, seien es Anfechtung, Versuchung, Leid und dergleichen, verliert seinen Stachel. Es kann willig, ja freudig ertragen werden, ein Vermögen, das bis dahin fehlte und nicht einmal verstanden werden konnte. - Stand auf allen diesen Stufen das Tun und das Streben im Vordergrund, so tritt auf der fünften eine weitere Wendung ein, nämlich eine solche, die als ein Ruhen in Gott zu bezeichnen ist. Die spirituelle Aktivität mündet ein in eine kontemplative Grundhaltung. Die ostkirchliche Spiritualität spricht von der »Hesychia« als von dem Stillestehen vor dem Angesicht Gottes. Auf der das ganze Geschehen krönenden sechsten Stufe wird die Gotteskindschaft erreicht, eine ebenfalls der menschlichen Machbarkeit enthobene Tatsache. Insofern ist der neue Mensch auch kein Resultat spiritueller Bemühung, sondern Frucht der göttlichen Gnade. Oder im Rahmen des prozessualen Voranschreitens nach Eckharts Worten: Der Mensch wird »entbildet«, sofern es seine irdische Gestalt, die Gestalt des »alten Adams« betrifft. Und er wird »überbildet«, also überformt und »hinüberverwandelt« in das göttliche Bild. Und das bedeutet: man wird des ewigen Lebens teilhaftig. Das Endziel des inneren Menschen ist erreicht, aber eben nicht als eine menschliche Leistung, sondern als Produkt der Gnade, auch wenn eine Reihe von Stadien eines Wegs aufzuzeigen waren.

Eine andere für das Schaffen Eckharts bedeutsame Frage klingt an, nämlich die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis, die sich auf Gott und auf die Natur, nicht am wenigsten auf den erkenntnisbeflissenen Menschen richtet. Gotteserkenntnis, wie er sie hier versteht, schließt Selbsterkenntnis ebenso ein wie die Erkenntnis der Kreaturen. Während eine Bemühung, die sich auf die Naturerkenntnis richtet, einer »Abenderkenntnis« entspricht, nennt der Prediger es eine, man darf wohl sagen: übergeordnete oder »Morgenerkenntnis«, wenn nämlich der Mensch die ihn umgebende Wirklichkeit als »in Gott« ruhend zu erkennen vermag. Nicht ihr etwaiger Eigenwert ist gefragt, sondern die Geschöpflichkeit in ihrer Verwurzelung im Schöpfer. Schließlich ist da die Einsicht, nach der Gottesund Selbsterkenntnis eine Einheit darstellen: »Wenn aber die Seele erkennt, daß sie Gott erkennt, so gewinnt sie zugleich Erkenntnis von Gott und von sich selbst.« Darüber gibt sich der Prediger jedoch keiner Illusion hin, etwa in der Annahme, das Schauen Gottes und das menschliche Erstreben der Schau seien identisch oder gleichwertig. Unablässig ist Eckharts Blick vielmehr darauf gerichtet, daß der Mensch eins werde mit dem Einen, das heißt, daß er aufgenommen, mithin aufgehoben werde in dem Grund der Gottheit.

Es waren die deutschen Predigten, die Meister Eckhart als Mystiker berühmt gemacht haben. Es sind dieselben Predigten (einschließlich des >Benedictus<-Traktats), die den Argwohn der Inquisitoren erweckten und ihrem Autor zum Verhängnis werden sollten. Auf die Frage, auf welchen Hauptnenner sich die Eckhartsche Predigtthematik bringen lasse, hat er selbst einmal schlüssig geantwortet: »Wenn ich predige, so pflege ich zu sprechen von Abgeschiedenheit und daß der Mensch ledig werden soll seiner selbst und aller Dinge. Zum zweiten, daß man wieder eingebildet werden soll in das einfaltige Gut, das Gott ist. Zum dritten, daß man des großen Adels gedenken soll, den Gott in die Seele gelegt hat, auf daß der Mensch damit auf wunderbare Weise zu Gott komme. Zum vierten von der Lauterkeit göttlicher Natur - welcher Glanz in göttlicher Natur sei, das ist unaussprechlich. Gott ist ein Wort, ein unausgesprochenes Wort.«

Damit ist Eckharts Predigtprogramm in wesentlichen Punkten umrissen. Welche Stellung ist nun hierbei dem Prediger zugewiesen? Für seine Hörer (und Leser) scheint der Wortmächtige über das Wort und damit über den göttlichen Logos im Sinn von Johannes 1 verfügen zu können.
Doch das entspräche der menschlichen Hybris. Wohl ist dem Prediger das Wort anvertraut, auch zugetraut, eher noch zugemutet. Doch keine Hochschätzung des Meisters kann an dessen Feststellung vorbei, die besagt: Gott, als er das Wort ist, ist ein »unaussprechliches Wort«. Insofern gebietet allein er, Gott allein, in seiner »Lauterkeit« über das letztlich Unaussagbare. Niemand kann dieses Wort »sprechen«. Ein Prediger von der Statur Eckharts kann bestenfalls in das Zeugnis des Propheten Jesaja einstimmen, der (Jes. 6) inmitten seines Berufungsgeschehens ausruft: »Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen!« Insofern stellt der Auftrag in der Tat eine unerhörte Zumutung dar, dieses Sollen und letztlich gar nicht Können. Bereits an dieser Stelle ist zu bedenken, was in manchen Predigten als Unterscheidung zutage tritt, wonach Eckhart sehr deutlich zwischen Gott und Gottheit unterscheidet. »Gott«, das ist derjenige, von dem Vorstellungen und Aussagen möglich sind, indem man etwa seine Liebe und seine Gerechtigkeit beschreibt. Ganz anders dagegen die »Gottheit«. Sie verweist auf den unauslotbaren Gottesgrund und ist Ausdruck seiner Verborgenheit, seiner totalen Jenseitigkeit, somit ist diese Gottheit jeder Beschreibbarkeit entzogen.

Was das Thema der » Abgeschiedenheit« anlangt, einen Begriff, den Eckhart wohl selbst geprägt hat, so wird darunter ein totales Abschiednehmen gemeint, ein totales Leer- und Ledigwerden. Wenn in den Predigten wiederholt von der »Jungfrau« die Rede ist, dann drückt dieses Bildwort das Nichtgebundensein (an einen Ehemann) aus. Gemeint ist Gelassenheit im Sinne eines totalen Lassens und Abstandnehmens, vor allem ein Abstandnehmen von sich selbst und von der eigenen Egoität. Wer sich »läßt«, wer leer und ledig wird, der tut dies in der Bereitschaft, für Gott offen und frei zu sein. Die Leere des Geistes und das so verstandene Nicht-Sein des Menschen schaffen Raum für die Anwesenheit Gottes. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen: Mystik wird dort verwirklicht, wo das (niedere) empirische Ich eingeschränkt und genichtet wird, damit - psychologisch gesprochen - ein reifes Selbst entstehen und hervortreten kann. Es ist zwar in der Gestalt der Gottesebenbildlichkeit bereits im Menschen veranlagt. Es verlangt aber ausgeformt zu werden.

In der Sprache Eckharts ausgedrückt, verkörpert dieses Selbst den »inneren Menschen«, den wahren Adam. Um dieser Selbstwerdung willen macht sich ein spirituell suchender Mensch auf den Weg, wie er beispielsweise in den erwähnten sechs Stationen beschrieben ist. Nur der Abgeschiedene, d.h. nur der leer Gewordene erfährt - philosophisch gesprochen - das reine Sein; religiös gesprochen die Gotteskindschaft und das ewige Leben. Es ist jenes höchste Menschheitsziel, das weder durch Wollen und Streben noch durch spirituell kaschiertes, egoverhaftetes Erreichenwollen gerade nicht zu erreichen ist.

Diese Abgeschiedenheit und dieses Ledigwerden ist sodann unerläßlich, weil Eckhart einem anderen Predigtthema seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt hat. Es ist das der Gottesgeburt im Seelengrund. Wenn sich jener vielzitierte Zweizeiler aus dem »Cherubinischen Wandersmann« des Angelus Silesius ins Bewußtsein vieler eingeprägt hat:


Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren,
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren,


dann spricht der schlesische Dichter des 17. Jahrhunderts in knapper Form aus, was Eckhart wieder und wieder als das zentrale Ereignis der menschlichen Selbstverwirklichung genannt hat. Sie geht von Gott aus. Das muß schon deshalb besonders hervorgehoben werden, weil der heutige Sprachgebrauch ganz andere Assoziationen nahelegt. Er, Gott, ist es, der seinen Sohn (vgl. Joh. 1, 14) im Menschen geboren werden läßt. Damit verkündet Eckhart keine Neuigkeit, weil dieses Motiv seit den Tagen der ersten Christenheit als ein fester Bestandteil zur kirchlichen Tradition gehört. Angefangen beim Apostel Paulus (Gal.4, 19) über Origenes, Augustinus, Gregor von Nyssa bis zu Johannes Scotus Eriugena im 9. Jahrhundert, steht das Motiv der Gottesgeburt in der Menschenseele im Zentrum der Meditation.

Als Eckharts Verdienst kann gelten, das Thema unauslöschlich dem religiösen Bewußtsein eingeprägt zu haben. Die Seele wird also zur Stätte dieses Mysteriengeschehens.

 

(Gerhart Wehr in der Einleitung zu "Meister Eckhart - mystische Traktate und Predigten")

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Kommentare: 1
  • #1

    Linda (Donnerstag, 04 November 2021 07:25)

    ‚Zum zweiten, dass man wieder eingebildet werden soll in das einfaltige Gut, das Gott ist.‘
    Wie schön doch die Sprache ist: da hat das Wort eingebildet so eine schöne Bedeutung!