Evagrius' Sichtweise

Die in der Welt vorfindliche Veränderung, die Ungleichheit und das Böse machen die Annahme einer ursprünglich harmonischen Schöpfung gleichrangiger Vernunftwesen (evagrianisch: logikoi) erforderlich, ebenso auch die künftige Rückkehr aller Vernunftwesen zu Gott und die eventuelle Vernichtung des Bösen. "Von den Geschöpfen wurden einige nach dem Urteil und einige vorher hervorgebracht. Was die ersten angeht, weiß niemand Genaueres, in Bezug auf die letzteren hat der, der am Horeb war (d. h. Mose), eines Bericht gegeben."

 

Die erste Schöpfung, die absolute Einheit mit der Trinität genoss, fiel von ihrer kontemplativen Vollkommenheit durch "Nachlässigkeit". Evagrius gibt noch weniger als Origenes Auskunft über das Wesen dieser Ursünde, die viel tiefer angesiedelt ist als alle die Sünden, die in der zweiten Schöpfung begangen werden.

Die Nachlässigkeit der ersten Schöpfung führte zu Gottes sofortigem Gericht über die logikoi und zur Hervorbringung der zweiten Schöpfung, die von Veränderung, Vielheit und Materie gekennzeichnet ist. Bewirkt wurde diese Schöpfung in und durch Christus, den einzigen ungefallenen logikos. Als das geschaffene Vernunftwesen, das dem Logos, der zweiten Person der Trinität, vollkommen geeint ist, kennt er allein das Wesensprinzip (logos) aller Dinge, die zur zweiten Schöpfung gehören.

Den logikoi sind in der zweiten Schöpfung bestimmte Plätze oder Ränge (systaseis) zugewiesen. Je nach Grad ihrer Nachlässigkeit handelt es sich um Engel, Menschen oder Dämonen. Der logikos oder nous, also die vernunfthafte Identität eines jeden Vernunftwesens, steigt ab bzw. 'verdichtet sich' in der psyche, der Seele, die aus drei Elementen besteht: nous (hier als der vernunfthafte Seelenteil), epithymia (Begehren oder Sinnlichkeit) und thymos (Abwehr oder Zürnkraft) . Bei den Engeln ist der nous vorherrschend; bei den Menschen die epithymia, und die Dämonen werden vom thymos beherrscht. Alle drei Wesen haben ihrer geistigen Verfasstheit gemäße Körper. Diese gottgegebenen Körper sind nach Evagrius sowohl Anzeichen für den Zustand des inneren nous als auch Hilfe für den Prozess der Rückkehr. Die komplexe Anthropologie des Evagrius (die gleichzeitig Angelologie und Dämonologie ist) lässt sich je nach der eingenommenen Perspektive als dreiteilig (nous, psyche, soma) oder als zweiteilig (psyche, soma) darstellen.

 

Die Rückkehr der gefallenen rationalen Schöpfung zu ihrer Quelle vollzieht sich in drei Stufen. „Das Christentum ist die Lehre Christi, unseres Erlösers, die aus der Praktike (d. h. dem asketischen Leben), der Physike (d. h. der natürlichen Erkenntnis) und der Theologike (d.h. der Schau Gottes) besteht“. Die beiden kontemplativen Stufen (Physike und Theologike) sind Untergliederungen dessen, was Evagrius gewöhnlich gnostike, das 'gnostische' Leben, nennt, so dass auch hier wieder ein binäres Grundmuster vorliegt. Diese Doppelstruktur (Evagrius steht terminologisch Platon und Klemens näher als Origenes) ist einer der bedeutendsten Beiträge des pontischen Abbas an die christliche Spiritualität - ein wichtiger Prototyp der späteren Unterscheidung zwischen asketischem und mystischem bzw. zwischen praktischem und kontemplativem Leben.

(B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Band 1 Seite 218-220)

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