Zum erneut durch den Kopf gehen lassen (2)

2. Ich habe keine Liebe zu meinem Nächsten; ich bin nicht nur nicht bereit, für das Wohl meines Nächsten mein Leben hinzugeben (gemäß dem Evangelium), sondern ich will nicht einmal meine Ehre, mein Wohlergehen und meine Ruhe zum Wohl des Nächsten opfern. Wenn ich ihn - nach Maßgabe des Evangeliums - wie mich selbst liebte, so würde sein Unglück mich treffen, sein Wohlergehen mich in Entzücken versetzen. Ich dagegen höre lieber mit Neugier Unglücksnachrichten über meinen Nächsten, werde aber davon nicht erschüttert, sondern bleibe gleichgültig, oder was noch verwerflicher ist, ich finde darin irgendwie ein Vergnügen. Und die schlechten Taten meines Bruders decke ich nicht mit dem Mantel der Liebe zu, sondern posaune sie aus und spreche dabei über ihn das Urteil. Sein Wohlstand, seine Ehre und sein Glück entzücken mich nicht, wie meine eigenen es täten, sondern rufen in mir - wie alles Fremde - absolut kein Gefühl der Freude hervor, sondern im Gegenteil: sie erwecken in mir auch noch irgendwie Neid und Verachtung.

 

(russischer Pilger ab Seite 151)

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