Grüner Blütentraum
LANDWIRTSCHAFT Wie sähe ein Deutschland aus, in dem alle vegan leben? Es gäbe viel mehr Platz, und die Burger kämen vom Acker. Aber eine heile Welt wäre das nicht. Ein
Gedankenexperiment. Von Bernhard Pötten (aus: "Spiegel")
Auf den ersten Blick betreibt Daniel Hausmann einen ganz gewöhnlichen Hofladen. Im Erdgeschoss seines Bauernhauses im sächsischen Breitenborn stehen Tische, an den Wänden hängen Zettel und
Plakate, in den Regalen lagern Nudeln, Gemüse und Obst zum Verkauf. Der zweite Blick offenbart: Die Milch ist aus Hafer, die Nudeln enthalten kein Ei, und das Schmalz besteht aus Pflanzenfett.
Auf den Zetteln an der Pinnwand heißt es »Der Mensch isst aus Gewohnheit Tier« und über einem Bild mit Hund und Ferkel: »Wen streicheln? Wen essen?«
Der junge Bauer hat seinen veganen Hofladen ausgerechnet im ehemaligen Kuhstall des Bauernhauses eingerichtet, das hier seit etwa 1900und Lauch liegen auf dem alten Futtertrog an der Wand,
die Eisenringe in der rissigen Steinwand zeugen von der Viehhaltung. »Ich bin mit Kühen aufgewachsen«, sagt der 30-jährige Landwirt, »aber es hat sich immer komisch angefühlt, wenn die Kälber zum
Schlachten abgeholt wurden.«
Deshalb gibt es auf Hausmanns Hof seit neun Jahren keine Nutztiere mehr. Als er zur veganen Landwirtschaft wechselte, stellte er sogar das Düngen mit Kuhdung ein. Aus der offenen Tür seines
Ladens blickt er jetzt auf den tierfreien Komposthaufen aus geschnittenem Kleegras, daneben blühen die alten Apfelbäume einer Streuobstwiese, begehbare Folientunnel schützen Salatköpfe,
Schnittlauch und Spinat vor Kälte
»Die extrem große Abwechslung bei Anbau und Fruchtfolge reizt mich«, erzählt der junge Mann im Anorak. Hausmann arbeitet mit etwa 5o Gemüsearten und Getreide auf 20 Hektar Land. 200 Kisten
mit Gemüse liefert er jede Woche an seine Kunden aus. Zwischen Leipzig und Chemnitz der einzige Landwirt zu sein, der aus Überzeugung keine Tiere habe, mache ihn stolz, sagt er. »Wir sind eine
vegane Insel hier.«
Was aber wäre, wenn aus dieser Insel Festland würde? Wenn ganz Deutschland und nicht nur eine Minderheit vegan leben würde? Wie würde eine solche Umstellung das Land, seine Landschaft und
seine Landwirtschaft verändern?
Nach einer Studie des AllensbachInstituts bezeichnen sich mittlerweile mehr als 1,1 Millionen Menschen in Deutschland als Veganer. Die Produktion von Fleischersatzprodukten steigt steil an,
2020 um mehr als 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr, allerdings auf sehr niedrigem Niveau. Bei vielen jungen Menschen vor allem in den Städten ist veganes Leben längst zum Standard geworden. Vegane
Cafés und Restaurants sind so normal wie die fleischlosen Ersatzprodukte im Wurstsortiment
Schon eine Landwirtschaft, die flächendeckend deutlich weniger Fleisch und Milchprodukte produzierte, würde eine riesige Veränderung bedeuten. Dies ergab eine umfangreiche Studie weltweiter
Experten 2019. Würde die Landwirtschaft so umgestellt, dass sie einen angemessenen Beitrag zu den Pariser Klimazielen leistete, müsste »der globale Verbrauch von Lebensmitteln wie rotes Fleisch
um über 5o Prozent sinken, während sich der Konsum von Nüssen, Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten mehr als verdoppeln müsste«. Vollständig vegetarisch oder gar vegan würden die Bauern dann noch
lange nicht wirtschaften. Bis jetzt ist das je nach Blickwinkel Utopie oder Dystopie.
»Wie ein völlig veganes Deutschland aussehen könnte, darüber gibt es bei uns keine Studien«, sagt Michael Welling vom ThünenInstitut, dem Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald
und Fischerei. Auch beim Max Rubner-Institut, der Forschungseinrichtung des Bundes für Ernährung und Lebensmittel: Fehlanzeige. »Das liegt so weit abseits des Realistischen und betrifft sehr
wenige Menschen, deshalb sind Untersuchungen schwierig«, so Welling. Weder Deutscher Bauernverband (DBV) noch Umweltbundesamt oder Weltklimarat haben wissenschaftliche Projektionen, wie eine
Versorgung Deutschlands ganz ohne Fleisch, Milch, Käse, Joghurt, Quark und Leder aussehen könnte.
Was sich allerdings sagen lässt: Ein veganes Deutschland wäre ein Land mit viel Platz. Das ergibt ein solches Gedankenexperiment nach vielen Gesprächen mit Landwirten, Forschern, Experten und
Aktivisten. Es gäbe deutlich weniger Nutztiere in diesem Deutschland, kaum noch große Ställe; auf den Feldern würden statt Mais und Weizen mehr Bohnen, Lupinen, Erbsen und Sojapflanzen wachsen.
Auf den Wiesen und Äckern lebten mehr Tier- und Pflanzenarten, das Grundwasser würde sich erholen, die deutschen Treibhausgasemissionen sinken. Die Menschen trügen Schuhe aus Ananasblättern und
Synthetik und äßen Burger aus Fleischersatz. Ab und zu würden sie Tabletten nehmen oder angereicherte Lebensmittel essen, um ihre Nahrung zu ergänzen. Aber im Großen und Ganzen lebten sie
gesünder als heute.
Deutschland in seiner veganen Variante sähe auch anders aus. »Unter diesen Bedingungen benötigen wir viel weniger Flächen, die bisher für den Anbau von Futtermitteln belegt sind«, sagt Achim
Spiller, Agrarökonom an der Universität Göttingen. »Um eine Kalorie aus Rindfleisch zu erhalten, müssen wir für die Futtermittel der Tiere sieben Kalorien investieren, die wir als Pflanzen auch
direkt essen könnten. Bei Schweinefleisch ist das Verhältnis immer noch eins zu drei.« In der Landschaft stünden weniger Ställe, aber mehr Treibhäuser für heimisches Obst und Gemüse, vermutet
Spiller. Wärme und Strom kämen aus Solaranlagen und Windrädern, auf freien Flächen wüchsen Energiepflanzen wie Raps für die Biogasanlagen.
Bisher wird etwa die Hälfte Deutschlands landwirtschaftlich genutzt. Von den knapp 17 Millionen Hektar sind rund 12 Millionen Ackerfläche und 5 Millionen Grünland wie Weiden und Wiesen. Auf
etwa 4,4 Millionen Hektar wächst derzeit Futter für Tiere -26 Prozent der gesamten Agrarfläche. »Da die Versorgung mit Proteinen aus Pflanzen wie Bohnen, Erbsen und Lupinen aber deutlich
effizienter ist als mit Fleisch und Milch, würden bis zu zwei Millionen Hektar frei«, sagt Urs Niggli, Vordenker des Ökolandbaus und bis März 2020 Leiter des Forschungsinstituts für biologischen
Landbau in der Schweiz. Im veganen Deutschland würde diese Fläche, immerhin so groß wie Rheinland-Pfalz, genutzt: für mehr Naturschutzräume, mehr Blühstreifen und Hecken für Insekten und Vögel.
Weite Moorflächen, auf denen keine Rinder mehr weideten, würden vernässt. An den Küsten stünden große Wassertanks, in denen Algen für Lebensmittel gezüchtet würden.
»Nackte Böden, von denen der Wind die Ackerkrume abträgt, würde es kaum noch geben«, glaubt die Öko-Agrarberaterin Anja Bonzheim. »Wir haben dann mehr Vielfalt in der Natur und auf dem
Teller: Wir essen neben Gemüse und Getreide auch mehr Nüsse und Samen, mehr Bohnen, Amaranth und Buchweizen.«
Ein veganes Deutschland röche auch anders. Der stechende Gestank von Ammoniak aus gedüngten Feldern wäre verschwunden. Kleegras würde den tierischen Dünger überflüssig machen. Die
Überdosierung von Stickstoff, derzeit ein großes Problem für Böden, Gewässer und Wasserwerke, ginge massiv zurück. »An den Stadträndern können riesige Kompostfarmen entstehen«, schlägt Christian
Vagedes von der Veganen Gesellschaft Deutschland vor. »Wir ersparen der Natur den Wahnsinn von heute, dass wir jedes Jahr elf Millionen Lastwagen mit Gülle irgendwohin kippen müssen.«
»Der Mist ist der heilige Christ, haben die Leute früher gesagt«, sagt dagegen Kay Bohne in der warmen Küche seines Dreiseithofs aus braunem Fachwerk im sächsischen Stollsdorf.
Bohne ist ein guter Bekannter von Daniel Hausmann, beide sind Mitglieder im Bioverband Gäa. Ihre Höfe trennen nur ein paar Hügel, aber auch eine Weltanschauung: Während Hausmann vegan ackert,
nutzt der Bohne-Hof Tiere in traditioneller bäuerlicher Ökolandwirtschaft.
Bohne kommt aus dem Nachbardorf, kaufte seinen Hof nach der Wende und baute mit seiner Frau Synke auf 2o Hektar Ackerland und 5o Hektar Wald einen Biohof auf. Sie halten eine kleine Herde von
etwa 15 Rindern, die oberhalb ihres Hofs stoisch im saftigen Kleegras dem kalten Regen trotzt. Dazu kommen etwa 4o Hühner, die sich auf der Weide gegenüber unter einen alten Anhänger ducken. Und
im Stall warten Umsi und Gunda, die beiden schwarzen sächsischen Warmblüter, auf ihren Einsatz vor dem Pflug. Ohne Nutztiere ginge auf Bohnes Hof nicht viel.
Für die Bohnes ist vegane Landwirtschaft eine interessante Idee, mehr nicht. »Zur bäuerlichen Landwirtschaft gehören Ackerbau und Viehzucht«, sagen sie. Doch wenn sie sechs Rinder im Jahr
schlachten, dann gehe ihr das schon nahe, sagt Synke Bohne. »Aber das gehört dazu, sie hatten ja ein gutes Leben.«
Auf dem Tisch liegt die Preisliste für das Rindfleisch, das sie im Hofladen verkaufen. Ein Kilogramm Lende für 46 Euro, Gulasch für 16 Euro. »Wir sind keine Veganer, wir halten und schlachten
Tiere«, sagt Synke Bohne, »aber ich habe mehr Verständnis für einen Veganer als für jemanden, der Billigschnitzel für 2,99 Euro kauft.«
Tatsächlich hat die Bundesrepublik ungewöhnlich gute Bedingungen, sich selbst vegan zu versorgen, sagt Agrarexperte Urs Niggli. »Denn in Deutschland sind nur rund 3o Prozent der
landwirtschaftlichen Fläche Grünland«, also Wiesen und Weiden, die zu karg, zu steil, zu nass oder zu abgelegen sind, um sich für den Anbau von Obst, Gemüse oder Getreide zu eignen. »Weltweit
sind das aber 67 Prozent«, zeigt der Experte anhand einer Statistik der Welternährungsorganisation FAO. In anderen EU-Ländern sei die Bedeutung des Grünlands ebenfalls viel größer als in
Deutschland. Wenn diese Flächen nicht mit Wiederkäuern wie Rindern, Schafen oder Ziegen beweidet würden, fielen sie für die Nahrungsproduktion aus.
Aber auch in einem veganen Deutschland würde das Grünland nicht einfach sich selbst überlassen. Ganze Regionen würden sonst mit Büschen und später Bäumen zuwuchern. Das aber bedeute eine
Gefahr für Tier- und Pflanzenarten aus der Kulturlandschaft, sagt Reinhild Benning, Agrarexpertin bei der Deutschen Umwelthilfe DUH. »Am meisten bedroht sind Tiere und Pflanzen der
agrarökologisch genutzten Agrarlandschaft, etwa Kiebitz, Braunkehlchen, Uferschnepfe oder Wiesen-Bocksbart sowie Kuckucks-Lichtnelke«, sagt sie. Eine Landwirtschaft ohne Nutztiere sei für viele
bedrohte Arten deshalb kein Fortschritt. Dazu komme,
dass gerade Wiesen und Weiden große Mengen Kohlenstoff im Boden speichern.
Doch es gibt Lösungen. Kühe - allerdings in viel kleineren Herden als heute - fressen ihre Weiden in Zukunft weiter ab und düngen sie mit ihren Hinterlassenschaften, sodass Wildkräuter und
Insekten sich vermehren können. Schafe und Ziegen ziehen über Deiche und Berghänge, um sie festzutreten. Außerdem erhalten sie die Landschaft in ihrem Charakter - ähnlich wie es die Heidschnucken
in der Lüneburger Heide tun. Die Herden werden »gemanagt«, also per Geburtenkontrolle auf gleichem Stand gehalten. Tote Tiere landen im Krematorium oder in der Biogasanlage.
Diese Rinder, Schafe und Ziegen wären praktisch Angestellte der Bauern - oder besser der Allgemeinheit. Weil sich die aufwendige Haltung von Tieren nicht mehr über den Verkauf von Fleisch,
Milch und Käse rentierte, müssten die Kosten als »Dienstleistungen an der Natur« aus Staatsgeldern bezahlt werden, wie es bereits jetzt teilweise in der »Gemeinsamen Agrarpolitik« der EU
geschieht. Die Zahlungen lägen deutlich höher als die heute in Deutschland verteilten 6,7 Milliarden Euro pro Jahr - und sie seien nicht so leicht bei den EU-Partnern durchzusetzen, die nicht
vegan leben wollen oder es wegen ihres vielen Grünlands gar nicht können, sagt Urs Niggli.
Der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, Bernhard Krüsken, hält dieses Szenario für absurd: Um einen solchen »riesigen Streichelzoo mit angeschlossener Nutztierkompostierung« zu
finanzieren, müsste die öffentliche Hand »einige Tausend Euro pro Hektar« aufwenden. Wie teuer ein solches System für den Steuerzahler wäre, lässt sich tatsächlich noch gar nicht
abschätzen.
Schweine dagegen wären im veganen Deutschland vollständig verschwunden. Auch Geflügel gäbe es nur noch rund ums Haus, keinesfalls in großen Ställen. Das Sportfischen wäre ausgetrocknet, weil
niemand mehr Tieren Leid zufügen möchte.
»Ein interessantes Gedankenspiel« nennt Knut Ehlers, Landwirtschaftsexperte beim Umweltbundesamt, die Vorstellung vom veganen Deutschland. Für ihn gäbe es beim Verzicht auf Tierhaltung große
Vorteile bei Naturschutz und sauberer Luft. Auch würde Deutschland seine Klimaziele leichter erreichen. Denn bislang gestehen die Szenarien zur Klimaneutralität der Landwirtschaft auch 2045 noch
Emissionen zu, die bisher praktisch nicht zu vermeiden sind - aus der Gülle, dem Verdauungstrakt der Rinder und aus Moorböden, die zu Weiden geworden sind.
Ehlers warnt allerdings vor einem »Heile- Welt-Szenario«. Denn auch vegane Landwirtschaft muss nicht ökologisch sein. Der Anbau von Linsen, Hafer, Erbsen und Bohnen ließe sich in
industriellem Maßstab und mit Mineraldünger ertragreicher organisieren als mit bäuerlichen Ökofamilienbetrieben. Der Druck zu Rationalisierung könnte sogar steigen, wenn keine Tiere mehr gehalten
würden.
In diesem Szenario würde sich ohnehin eine völlig neue Agrarindustrie etablieren. Marktführer bei Sojaschnitzel und veganer Teewurst könnte die ursprüngliche Fleischfabrik Rügenwalder Mühle
bleiben, die schon 2020 mit veganen und vegetarischen Produkten ähnlich viel Umsatz wie mit klassischen Fleisch- und Wurstwaren machte. Auch das Schlachtimperium Tönnies aus Rheda-Wiedenbrück hat
mit seinem Veggie-Geschäftsbereich Vevia 4 You schon seit 202o den Markt der Zukunft jenseits der billigen Massenware aus Tierfleisch entdeckt.
Aus Sicht des DBV wäre ein veganes Deutschland ein ökonomisches und ökologisches Desaster: »Den Landwirten würde ohne Tierhaltung etwa die Hälfte ihrer Wertschöpfung und ihres Einkommens
verloren gehen«, sagt DBV-Generalsekretär Krüsken. Ohne Tiere bliebe den Landwirten nur der Erlös aus den Feldfrüchten, daher brauchten sie deutlich größere Flächen für das gleiche Einkommen. Die
Wertschöpfung durch die Veredelung von veganen Produkten bliebe bei den Lebensmittelherstellern hängen. Der wirtschaftliche Druck würde Höfe noch schneller sterben lassen.
Krüsken warnt: Ohne den Kreislauf von Ackerbau mit tierischem Dung müssten Betriebe mehr Mineraldünger einsetzen, der mit hohem Energieaufwand hergestellt wird. Dazu sänke der Verkehrswert
von Grönlandgrundstücken, wenn keine Viehwirtschaft mehr stattfände.
Zurück auf dem veganen Hof von Bauer Daniel Hausmann. Der junge Landwirt gibt gern zu, dass er durchaus Tiere »benutzt«: Am Bach hat er Weiden und Erlen gepflanzt, um den Erlenblattsauger
anzusiedeln. Der wiederum soll Marienkäfer anlocken, die dann nebenan auf dem Feld die Blattläuse vom Gemüse fressen sollen. »Und wenn der Fuchs auftaucht, haben die Nachbarn Angst um ihre
Hühner«, sagt Hausmann. »Ich freue mich, wenn er sich bei mir ein paar Mäuse schnappt.« Und die Schnecken auf seinem Salat? Die töte er natürlich nicht, sondern sammle sie in einen Eimer und
kippe sie dann weit entfernt in die Wiese.
»Das Leben ohne Tiere ist schon entspannter«, findet Hausmann. Und: »Man hat viel mehr Freiheit. Anders als ein Stall voller Kühe kommt mein Gemüse auch mal ein Wochenende ohne mich
aus.«
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