76 Wer einen Hinterhalt von Feinden nicht merkt, wird mühelos niedergemacht, und wer die Ursachen der Leidenschaften nicht kennt, kommt leicht zu Fall.
77 Von Genußsucht kommt Nachlässigkeit und von Nachlässigkeit Vergessenheit. Gott hat nämlich allen die Erkenntnis des Nützlichen verliehen.
78 Ein Mensch rät dem Nächsten entsprechend seinem Wissen. Und Gott wirkt für den, der auf ihn hört, entsprechend dessen Glauben.
79 Ich sah Ungebildete, die hatten wirklich einen demütigen Sinn angenommen; und sie wurden weiser als die Weisen.
80 Ein anderer Ungebildeter hatte gehört, wie jene gelobt wurden, und ahmte ihre Demut nicht nach; vielmehr rühmte er sich seiner mangelnden Bildung und lud damit Hochmut auf sich.
81 Wer Verständnis geringachtet und sich seiner Torheit rühmt, ist nicht nur ein Ungebildeter im Wort, sondern auch in der Erkenntnis!
82 Denn wie etwas anderes Weisheit des Wortes und etwas anderes Einsicht ist, so ist eines fehlende Bildung im Wort und ein anderes Unverstand.
83 In keiner Weise wird Ungeschicklichkeit im Ausdruck dem wirklich Frommen schaden, genausowenig wie Weisheit der Worte dem Demütigen.
84 Sag nicht: "Ich weiß nicht, was richtig ist, und mich trifft keine Schuld, wenn ich es nicht tue." Würdest du nämlich alles Gute tun, das du weißt, würde dir auch das übrige in der Folge
aufgezeigt werden und von dir - wie bei kleinen Häusern - eines nach dem anderen entdeckt werden. Es ist dir nicht von Vorteil, daß du vor der Verwirklichung der ersten die zweiten Dinge kennst.
Denn die Erkenntnis macht aufgeblasen durch die Trägheit, doch die Liebe baut auf, da sie alles erträgt.
85 Die Worte der göttlichen Schrift lese durch die Tat, und rede nicht breit daher, indem du dich bloß aus ihr gewonnener Einsichten wegen aufblähst.
86 Wer die Tat hat fahrenlassen und sich auf die nackte Erkenntnis stützt, hält statt eines zweischneidigen Schwertes einen Rohrstab fest. Dieser wird gemäß der Schrift zur Zeit des Krieges
in seine Hand stechen und sie durchbohren, wobei er vor den Augen der Feinde das Gift der Natur eindringen läßt.
(aus Markos der Asket, Zweihundert Kapitel über das geistige Gesetz)
Kommentar schreiben
R.G. (Dienstag, 29 Juni 2021 15:19)
"86 Wer die Tat hat fahrenlassen und sich auf die nackte Erkenntnis stützt, hält statt eines zweischneidigen Schwertes einen Rohrstab fest. Dieser wird gemäß der Schrift zur Zeit des Krieges in seine Hand stechen und sie durchbohren, wobei er vor den Augen der Feinde das Gift der Natur eindringen läßt."
Ohne Praxis sind wir für gewisse Lebensanforderungen nicht gewappnet, sondern werden in einer herausfordernden Situation selbst dafür sorgen, dass das Animalische sich in uns Bahn brechen kann. Und das nur, weil wir uns durch die Erkenntnis sicher aufgestellt wähnen.
Ruth Finder (Dienstag, 29 Juni 2021 17:44)
#1 - Sehr präzise formuliert, Ruth G.!
R.G. (Mittwoch, 30 Juni 2021 08:10)
"84 Sag nicht: "Ich weiß nicht, was richtig ist, und mich trifft keine Schuld, wenn ich es nicht tue." Würdest du nämlich alles Gute tun, das du weißt, würde dir auch das übrige in der Folge aufgezeigt werden und von dir - wie bei kleinen Häusern - eines nach dem anderen entdeckt werden. Es ist dir nicht von Vorteil, daß du vor der Verwirklichung der ersten die zweiten Dinge kennst. Denn die Erkenntnis macht aufgeblasen durch die Trägheit, doch die Liebe baut auf, da sie alles erträgt."
Entwicklung verläuft nicht linear. Wenn wir vor der Verwirklichung der ersten, also der naheliegenden Dinge, die zweiten Dinge erkennen, aber uns nicht der unendlichen Komplexität bewusst sind, ziehen wir die falschen Schlüsse und Konsequenzen daraus. Wir vergessen, dass wir mit jedem gegangenen Schritt ein Anderer sind und auch die Welt eine andere ist.