54 Beschließe oder tu nichts ohne gottgefälliges Ziel. Denn wer ziellos umherwandert, wird sich vergeblich mühen.
55 Wer ohne Zwang sündigt, dem widerfährt, was schwer bereut werden kann. Denn die Gerechtigkeit Gottes kann nicht vergessen werden.
56 Ein schmerzliches Ereignis läßt den Verständigen an Gott denken, genauso wie es den bedrängt, der Gott vergißt.
57 Jede unfreiwillige Mühe werde dir zur Lehrerin der Erinnerung, und es wird dir niemals an Grund zur Umkehr fehlen.
58 Das Vergessen besitzt, für sich genommen, keine Kraft, sondern wird mehr oder weniger gestärkt durch unsere Nachlässigkeiten.
59 Sag nicht: "Was soll ich tun? Es kommt, ohne daß ich es will!" Denn du hast beim Nachdenken nicht beachtet, was von dir verlangt wird.
60 Tu das Gute, an das du denkst, und es wird dir jenes aufgezeigt, an das du nicht denkst; und du gibst keinesfalls deinen Sinn willkürlichem Vergessen preis.
61 Die Schrift sagt: "Unterwelt und Verderben liegen offen vor dem Herrn." Dies sagt sie von der Unwissenheit und dem Vergessen des Herzens.
62 Die Unterwelt nämlich bedeutet die Unwissenheit, denn beide sind nicht zu sehen. Und das Verderben ist das Vergessen, da sie beide aus dem Bestehenden in den Untergang entschwunden
sind.
63 Kümmere dich um deine eigenen Fehler und nicht um die des Nächsten, und niemals wird dir das geistige Betätigungsfeld genommen.
64 Mit keinem guten Werk, welches in unserer Macht liegt, ist die Nachlässigkeit vereinbar. Doch rufen Wohltätigkeit und Gebet die Nachlässigen zurück.
65 Jede Bedrängnis ist nach dem Willen Gottes ein wesentliches Werk der Frömmigkeit. Die wahre Liebe wird nämlich durch Widerwärtigkeiten geprüft.
66 Sage nicht, du habest eine Tugend ohne Bedrängnis erworben. Sie ist nämlich unbrauchbar aufgrund der Schlaffheit.
67 Bedenke den Ausgang jeder unwillkommenen Bedrängnis, und du wirst in ihr Tilgung der Sünde finden.
68 Viele Ratschläge des Nächsten sind von Vorteil. Für jeden aber ist nichts passender als die eigene Einsicht.
(aus Markos der Asket, Zweihundert Kapitel über das geistige Gesetz)
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R.G. (Donnerstag, 24 Juni 2021 17:27)
Deutungsversuche zu #55?
Linda (Freitag, 25 Juni 2021 07:14)
Für mich hört sich das nach Karma an.
Linda (Freitag, 25 Juni 2021 07:17)
Ich komme bei der #66 nicht ganz weiter. Das hört sich so nach Leidensweg an, ohne die Möglichkeit, durch Einsicht weiterzukommen...
C. (Freitag, 25 Juni 2021 07:22)
Ich würde hier "Bedrängnis" als "Prüfung/Geprüftwerden" lesen. Nichtraucher sein, ohne das es Zigaretten gibt, ist keine Tugend. Wenn an jeder Ecke ein Automat steht, dann schon. Und das "Nichtrauchen" KANN durch Einsicht erworben werden.
Ja, ein schwaches Beispiel, aber es verdeutlicht den Sachverhalt, denke ich.
C. (Freitag, 25 Juni 2021 07:23)
Auf 66 bezogen.
C. (Samstag, 26 Juni 2021 20:31)
55 tut sich nix?
"Wer ohne Zwang sündigt, dem widerfährt, was schwer bereut werden kann. Denn die Gerechtigkeit Gottes kann nicht vergessen werden."
Der erste Satz ist schon doppeldeutig. Naja, wenn man so will. "Was schwer bereut werden kann" heißt ja einerseits (und das ist wahrscheinlich auch gemeint), dass es nicht LEICHT bereut werden kann. Mehr umgangssprachlich könnte man "schwer" auch als "sehr" lesen. Im Sinne von: "Der ist schwer in Ordnung!"
Offensichtlich wird mit dem ganzen Satz ja auch unterstellt, dass man MIT Zwang sündigen kann. Also beispielsweise - angenommen, dass Lebensmitteldiebstahl eine SÜNDE wäre - wenn jemand durch starken Hunger "gezwungen" wäre, ein Brot zu stehlen. Das könnte als Sünde unter Zwang gesehen werden.
Ohne Zwang wäre dann das Klauen eines Brotes um des Klauens willen. Um den Besitzer zu schädigen. Und am nächsten Mülleimer würden wir das Brot dann wegwerfen.
Warum kann die karmische Antwort auf letzteren Fall SCHWER bereut werden? Oder ist es vielmehr so zu verstehen, dass das Sündigen ohne Zwang selbst das ist, was dem Täter widerfährt? Und das aufgrund der Entscheidungsfreiheit nicht leicht zu bereuen ist?
Und das Ganze dann noch, weil "die Gerechtigkeit Gottes nicht vergessen werden kann"? Da muss man aber wirklich tiiief nachdenken.
R.G. (Sonntag, 27 Juni 2021 04:46)
Wer ohne Zwang, also aus freien Stücken, sich von Gott trennt und sozusagen gegen Ihn handelt nur weil er es kann, der wird mit weitaus härteren karmischen Konsequenzen zu tun haben als jemand, der dies aus einer Not heraus tut. Der Grund liegt darin, dass es uns gar nicht möglich ist, Gott vollständig zu vergessen, d.h. wir müssen schon etwas tun, um die leise Stimme unseres Gewissens/HS zu übertönen. Darin liegt die "Schuld".
R.G. (Sonntag, 27 Juni 2021 05:31)
Ergänzung zu Kommentar 7:
Wir haben also immer die Erinnerung an Gott in uns (auch wenn sie nur ganz leise ist), unabhängig von den Lebensumständen. Dieser Erinnerung in schwierigen Lebenssituationen zu entsprechen, stellt weitaus größe Anforderungen an unser Bemühen und wird dementsprechend "angerechnet".
R.G. (Sonntag, 27 Juni 2021 05:39)
Ergänzung zu Kommentar 8:
Wenn wir Gott auch in schwierigen Zeiten entsprechen wollen, sollten wir die förderlichen Bedingungen als Trainingslager nutzen, bevor es in den Wettkampf geht.
R.G. (Sonntag, 27 Juni 2021 06:02)
Ergänzung zu Kommentar 9:
Wenn wir in förderlichen Situationen"sündigen", welche Gründe für mildernde Umstände wollen wir dann anführen?
Wenn wir es nicht aus der Not heraus getan haben, bleibt ja nur noch...weil wir es wollten und konnten, als die Stimmen die Gottes Stimme übertönt haben.
Ruth Finder (Sonntag, 27 Juni 2021 10:47)
Zu allen guten Überlegungen zu #55 oben habe ich noch zwei weitere:
1) Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, dass die folgende Geschichte #55 ganz gut beschreibt, denn "ohne Zwang sündigen" könnte einen lockeren Umgang mit den Fehlern bedeuten:
- Einmal sprach Rabbi Jehuda Zwi von Rozdol: "Wir haben heute gebetet: 'Alles Vergessenen gedenkst du von Ewigkeit her.' Was haben wir damit gesagt? - Gott will nur dessen gedenken, was der Mensch vergisst. Hat einer einen Fehler gemacht und danach bereut er diesen Fehler mit all seiner Kraft und macht es wieder gut, hat Gott diesen vergessen. Aber die leichthin abgestreiften Fehler sind bei ihm verwahrt."
Und eben dieses Verwahren ergibt karmische Konsequenzen als Gottes Gerechtigkeit.
2) "Ohne Zwang" - unbedarft, leichtfertig, unwissend, nicht wissen wollend. Aber bekanntlich schützt das alles nicht vor Strafe/ vor Gottes Gerechtigkeit in Form von Karma. Erschwerend dabei: Man versteht nicht einmal, warum einem etwas Negatives widerfährt, und infolgedessen kann man nichts bereuen (man tut sich schwer, etwas zu bereuen). Ein Teufelskreis.
Aber hier kommen die angesprochenen Doppeldeutigkeit von C. und die Erinnerungsmöglichkeit von R.G. ins Spiel: Denn Unwissen über Gerechtigkeit ist keins, sondern es ist ziemliches Vergessen. Und was man vergessen hat, kann man durch das Erleben/ Erleiden der Konsequenzen wieder in Erinnerung bringen, und dann von ganzen Herzen (schwer) bereuen.
K (Mittwoch, 30 Juni 2021 14:51)
ergänzend zu allen Ausführungen von Nr 55 kam mir der Gedanke: Andersherum ist es auch so: Wer ohne Zwang Gutes tut, dem widerfährt eher was Gutes. "Ohne Zwang" heißt hier: aus der eigenen Einsicht heraus, aus freien Stücken, ohne egoistische Hintergedanken. Wer nur was Gutes tut, weil es von ihm erwartet wird oder weil deshalb z.B. das öffentliche Ansehen steigt (mit "Zwang") wird nicht die positiven Konsequenzen spüren, wie derjenige, der etwas Gutes tut aus der Einsicht heraus, ohne Wunsch nach Lob, Dank, Anerkennung etc.
K (Mittwoch, 30 Juni 2021 15:06)
Nr 60: Wenn wir uns in die richtige Richtung bewegen, erfahren wir Unterstützung. Wir müssen mit dem ersten Schritt anfangen, dann werden uns die nachfolgenden Schritte gezeigt. "Willkürliches Vergessen": gleichgültig sein, nicht hinsehen wollen, Faulheit, nicht bemühen....Wenn wir an den Baustellen arbeiten, die uns bewußt sind, werden uns immer mehr Baustellen bewußt werden, an denen wir auch arbeiten können und wir laufen nicht Gefahr, in unförderliche Unbewußtheit und Untätigkeit zu versinken.
K (Mittwoch, 30 Juni 2021 15:13)
Nr 63: dazu passend: "Den Splitter im Auge des andern siehst du, aber den Balken im eigenen Auge nicht."
"...und niemals wird dir das geistige Betätigungsfeld genommen." Wir haben so viele Fehler, dass wir mit der Aufgabe, uns um unsere eigenen Fehler zu kümmern, erstmal laaaaange zu tun haben werden.