Ursprung und Bedeutung I

URSPRUNG UND BEDEUTUNG DER RELIGIONEN

Es gehört grade zu dem uns unfaßlichen ganz und gar anderen und gegensätzlichen Sein Gottes, daß trotz dieses Unterschiedes und Gegensatzes, der zwischen Gott und allem, was Mensch ist, besteht, etwas Göttliches in uns verborgen ruht, was uns erst zum Menschen macht, unsere Seele, die nicht ursprünglich Gott gegensätzlich war, sondern es erst in der Zeit geworden ist.

Trotz dieses schneidenden Gegensatzes zwischen Gott und Mensch ist die Energie des lebendigen Gottes nicht nur negativ, sondern wirkt auch positiv, indem die selbe Macht seines Lebens, die entarten, sterben, verwesen läßt, trotzdem die Welt mit ewigen Armen trägt und die Menschheit in seiner Gnade birgt.

Es ist nicht wahr, daß das Verhalten Gottes zur Menschheit nur Gericht sei und daß erst durch und seit Jesus seine Gnade sich ihrer erbarme.

In Wahrheit ist die Gnade Gottes das Leben der Welt von Urbeginn gewesen und geblieben, und sie ist ihr nie entzogen worden trotz Sünde und Tod. Sonst existierte die Menschheit nicht mehr.

Die Kraft des Guten ist stärker als die Kraft des Bösen in der Welt.

Das ist der Beweis, daß die Gnade Gottes größer ist als sein "Zorn", oder vielmehr daß das Gericht auch aus der Gnade hervorgeht und ihr dienen soll.

Immer wieder, je nachdem wie der Widerhall des tiefsten Grundes im Menschen auf der Macht des göttlichen Wiederherstellungsdranges ist, kommt Scham, Reue, Erschütterung über unsere Verwirrung und Verzweiflung über unser Elend und Verderben über uns.

Das war vor Christus so, wie es heute ist, in und außerhalb des Christentums, bei Rassen und Kulturen jeder Art.

Diese Energie des Gerichts ist Äußerung der rettenden, wiederherstellenden, neu schaffenden Liebe Gottes, die sie dadurch zurückbringen will.

Das hat Jesus zuerst erkannt und verkündigt.

Vielleicht würden wir es nicht sehen, wenn er uns nicht die Augen dafür geöffnet hätte. Aber so ist es mit Händen zu greifen.

So sind aus dieser Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit heraus die Religionen entstanden.

Sie sind die Äußerungen und Ausgestaltungen des Eindrucks der Menschheit von dem unbegreiflichen Urgeheimnis alles Seins, von dem man von allen Seiten bedrängt wird.

Man verkennt im allgemeinen, daß dies Empfinden des Jenseits, der Eindruck des Unheimlichen des Seins, die Erschütterung durch das Fremde und Unfaßbare, was uns umgibt, sich in verschiedenster Weise äußern kann, je nach dem es von dem Gefühl der Angst oder dem Gefühl des Staunens empfangen wird, nämlich als Grausen und als Ehrfurcht.

Wenn es sich als Grausen äußert, so entspringt daraus der Aberglaube und alle dämonischen Verirrungen, zu denen er führt. Wenn es sich aber als Ehrfurcht äußert, so entspringt daraus der Glaube, die Sehnsucht und das unwillkürliche Gefühl der Verpflichtung und Verantwortung, auf dem das sittliche Empfinden beruht.

Hieraus erkennen wir die Bedeutung der Religionen.

 

(aus Johannes Müller, "Das Urgeheimnis")

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