"Denn der Schöpfer gewährte den Intelligenzen, die er schuf, willensbestimmte, freie Bewegungen, damit in ihnen ein ihnen eigenes Gut entstehe, da sie es mit ihrem eigenen Willen bewährten. Doch Trägheit, Überdruß an der Mühe, das Gute zu bewahren, und Abwendung und Nachlässigkeit gegenüber dem Besseren gaben den Anstoß zur Entfernung vom Guten."
(Origines, De prin. 119, 2).
Origenes hat wie die anderen christlichen und heidnischen Platoniker Schwierigkeiten, das Wesen dieses Falls zu erklären (kann es überhaupt eine Erklärung für das Böse geben?). Vielleicht
kann man hier nach einem Vorschlag von P. Cox an ein „Versagen der Vorstellungskraft" denken. Dieses Postulat eines vorgängigen Falls ist natürlich wichtig für die Konsistenz von Origenes'
Theodizee. Vielfalt und Böses in unserer gegenwärtigen Welt widerlegen nicht die Güte des Schöpfers, sondern zeigen den Grad des Abfalls von der vollkommenen Kontemplation an. Engel sind
Vernunftnaturen, die noch in der kontemplativen ursprünglichen Harmonie verbleiben. Menschen sind Vernunftnaturen, die tiefer gefallen sind und denen eine zweite, materielle Schöpfung als
Schauplatz - besser: als Klassenzimmer - zugewiesen wurde, um dort ihr Schicksal abzuarbeiten. Dämonen sind im (vielleicht) unabänderlichen Widerspruch zu Gott fixiert. Die materielle Schöpfung
(die Origenes allem Anschein nach in den 'Röcken aus Fellen' in Gen 3,21 fand) war nicht so sehr eine Bestrafung als eine erzieherische Chance. Das spricht für den ambivalenten Stellenwert der
Materie bei Origenes. Materie ist nicht böse; sie ist eine gute Gabe eines guten Schöpfers. Sie ist aber ein begrenztes Gut, ihr eigentlicher Sinn ist, die Vernunftnaturen den Aufstieg auf dem
Weg zurück zur ungehinderten Gottesschau zu lehren.
Die gefallenen Vernunftnaturen bilden den Kern der menschlichen Person, die für Origenes nach drei Dimensionen hin zu bestimmen ist. Entsprechend der berühmten paulinischen Formel (1 Thess
5,23) unterscheidet Origenes 1. pneuma bzw. Geist, die geschaffene Teilhabe am Hl. Geist, die in der gefallenen Menschennatur gehemmt ist; 2. psyche bzw. Seele, der sozusagen 'erkaltete' Zustand
des Geistes im gefallenen Stand, der entweder wieder durch die Belehrung des Hl. Geistes nach oben auf die Kontemplation Gottes hin ausgerichtet werden kann oder durch den sensus carnalis (vgl.
Röm 8,6) niedergedrückt wird auf die Ebene 3. des soma bzw. Leibes, der materiellen Komponente des Menschen. Der Leib ist jedoch, man muß darauf hinweisen, nicht böse; er ist vielmehr eine
Wohltat des Schöpfers, um "den potentiell mächtigen Geist jedes Einzelnen dazu herauszufordern, sich über sich selbst hinauszustrecken", wie Brown zu De prin. III 2, 3 vermerkt. Jeder
Intellekt war nämlich "nach dem Bilde" geschaffen, d. h. als Anteilhabe am Logos blieb er fähig, den ursprünglichen Zustand der kontemplativen Gottähnlichkeit (vgl. Gen 1,26) Jurch die
pädagogische Aktivität des Logos zurückzugewinnen. In den Genesishomilien ruft Origenes seinen Lesern zu: "Betrachten wir also immer dieses Bild Gottes, damit wir nach seinem Gleichnis
wiedergestaltet werden können."
Wenn der Prozeß der Wiederherstellung bzw. Rückkehr nur auf Grund der Tätigkeit des Logos geschehen kann, erhebt sich die Frage, wie der Logos aktuell die Wunden des Falls heilt und alle
Dinge zum Vater zurückführt. Auch hier wird der christliche Platonismus des Origenes zum Vorbild vieler späterer Theologien. Er arbeitet anhand des platonischen Exitus-Reditus-Schemas eine
zweifache Aktivität der zweiten Person der Trinität heraus. Als bloßer Logos ist die zweite Person Modell und Künstler (Origenes kombiniert hier die Ideen und den Demiurgen aus dem Timaios); als
Logos-sarx wird sie zum notwendigen Medium der Rückkehr.
(B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Band 1 Seite 172, 173)
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C. (Sonntag, 23 Mai 2021 20:15)
Die Notwendigkeit, "das Wesen des Falls zu erklären", entsteht nur, wenn wir einen "Fall" annehmen. Sehen wir den Fall statt dessen als Beginn eines Aufstiegs in eine Zusatzqualifikation, wird das aus der Verwicklung in die Trennungswelten entstehende "Böse" zu einem Mangel an Gutem, der lediglich aus kindlich unbeholfenem Agieren im "Klassenzimmer" resultiert. Dem "Bösen" ließe sich Prinzipienhaftigkeit absprechen.