Brief

Brief an einen Weisen

Ein westlicher Schüler der spirituellen Wissenschaften schrieb an einen gewissen orientalischen Weisen einen strengen und tadelnden Brief, als er dessen Namen einmal in der Zeitung fand. "Sie sollten völlig gleichgültig sein gegenüber den Dingen dieser Welt!" schrieb er - und vieles mehr.

Bei einem Besuch fragte ich den Weisen nach seiner Reaktion auf den Brief, weil ich dem Schreiber darüber berichten wollte.

Er murmelte als Antwort: "Es ist wahr, ich erhalte Briefe, aber ich lese sie nicht, weil sie zu den Dingen dieser Welt gehören - und für sie interessiere ich mich nicht."

Nach den Sufis schließen die "Dinge dieser Welt" alles ein außer der Wahrheit.

 

(Idries Shah, aus "Wege des Lernens")

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Kommentare: 3
  • #1

    Ruth Finder (Samstag, 22 Mai 2021 12:49)

    Die Geschichte ist um den letzten Satz herum "konstruiert" und pointiert.

    Der Satz stimmt auch, denn alle Dinge dieser Welt sind durch die menschliche Wahrnehmung ein Abbild des Abbilds.

    Außerdem wäre der Weise nicht ein Weiser, wenn er nicht auch anerkennende und lobende Zuschrifften unter den Briefen vermuten würde, und auch diese nicht öffnete. Ein Weiser ist gleichgültig/frei (vermutlich weitestgehend) gegenüber Lob und Tadel.

    So weit, so gut. Ich habe gedanklich weiter gesponnen:

    Nun könnten unter den Briefen auch Hilferufe, Fragen, Bitten um Belehrung sein. Auch das sollte er in seiner Weisheit annehmen. Und trotzdem keine "Gnade".

    Ich habe für mich die letzte Überlegung im Geiste der Geschichte halbwegs gelöst. Stehe trozdem ein wenig auf dem Schlauch: Was ist mit dem Lehrauftrag bzw. Hilfestellung?

    Hab mir zwar etwas gedacht, aber könntet ihr vielleicht in die Überlegungen einsteigen?

  • #2

    R.G. (Samstag, 22 Mai 2021 13:23)

    Da er ja als Weiser bekannt ist, wird er in irgendeiner Weise auch lehren. Wodurch wäre er sonst als Weiser bekannt geworden?
    Aber muss er als Weiser auch Menschen auf jeglicher spirituellen Entwickungsstufe belehren? Da scheint es doch eher so zu sein, dass es bestimmte Lehrer für bestimmte Schüler gibt, deren Entwicklungsstufe angemessen.
    Wie in der Welt. Auch da wird, um auf das alte Beispiel zurückzukommen, kein Uniprofessor ein Kindergartenkind lehren.

  • #3

    Ruth Finder (Samstag, 22 Mai 2021 14:06)

    Aufschlussreich und naheliegend! Ich Doofi.^^