Der Schöpfer Geist ist weder ein religiöser Enthusiasmus wie man sich das Walten des heiligen Geistes im Urchristentum vorstellt, noch eine gläubige Gesinnung, Frömmigkeit oder
Heiligkeit.
Der Schöpfer Geist beseelt und bestimmt uns, er begabt uns und lebt sich durch uns aus.
Aber er wohnt nicht in uns.
Das ist die christliche Verkennung der Wirklichkeit, die der landläufigen Vorstellung von dem "Gott in der eigenen Brust" entspricht.
Dieser Schöpfer Geist hat seit Urbeginn das Weltall durchwaltet und auch in der abgefallenen Menschheit gewirkt, den Menschen unbewußt.
Darum ist auch zu allen Zeiten von gottbegnadeten Menschen geredet worden.
Wenn Goethe einmal an Kiemen schreibt: "Wir Menschen sind nur so lange produktiv, als wir religiös sind -, so meint er gewiß nicht Religiosität im konfessionellen, ja nicht einmal im
subjektiven Sinn, sondern denkt an die innere Verfassung, die sich von Gott durch Eindrücke und Erlebnisse ergreifen läßt, an die Bewegtheit der Seele, die durch den Geist Gottes
hervorgerufen wird, ohne daß sich der Mensch dessen als eines religiösen Vorgangs bewußt zu werden braucht.
Alles das gedeiht schwer in der Frömmigkeit der Religionen, bei ihren Vorurteilen, ihrem Bescheidwissen, ihrem Reflektieren und Machen, ihrer Befangenheit und Bedenklichkeit, ihrer
Subjektivität und ihrer Gebundenheit in dogmatischen Auffassungen und Grundsätzen.
Was unzählige empfängliche und begnadete Menschen auszeichnete, die durch Gottes Eingebung zu schöpferischen Lebensäußerungen befruchtet wurden, obwohl sie sich weder um Frömmigkeit noch
Moral viel kümmerten, war ein lebendiges, echtes, tiefes Empfinden, d. h. Empfänglichkeit und völlig selbstvergessene Hingabe an das, was sie ergriff und in ihnen geschah, das gänzliche Aufgehen
in der Sache, um die es ging.
Wenn ich mich einem Lebensanspruch, ob es mein Nächster ist oder ein Einfall oder eine Not, ein Schicksal, eine Aufgabe, ganz selbstverständlich hingebe, um ihn zu empfangen und zu erfüllen,
so kann ich das aus der Kraft des heiligen Geistes, der mich ergreift und in mir waltet.
Und das ist das Entscheidende.
Ein wahrhaftiger, das Seufzen der Menschheit verwirklichender, erfüllender Friede ist unausdenkbar. Der kann nicht konstruiert und gemacht, sondern muß als eine neue Schöpfung von Gott
empfangen werden.
Darum ist es die Menschheitsfrage schlechthin, daß das kosmische Geheimnis des heiligen Geistes sich im Leben der Menschen offenbart und unser ganzes Sein und Tun in diesem Walten und Wirken
Gottes Wurzel schlägt.
(aus Johannes Müller, "Das Urgeheimnis")
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R.G. (Freitag, 14 Mai 2021 05:21)
"Lebensäußerungen" und "Lebensanspruch".
Wunderbare Ausdrücke!