Hiernach ist klar, daß kein Mensch etwas für sich ist und ihm kein Verfügungsrecht über sich zukommt, trotz seiner Eigenart und Besonderheit, die nur die eigentümliche Fassung und Gestalt des
gemeinsamen Menschlichen darstellt, sondern nur ein Teil im Ganzen, im Ganzen des Seins und des Geschehens.
Deshalb ist die sich absondernde Vereinzelung der Menschen vom Ganzen Zerfall des Ganzen und damit Verfall des Ganzen und der Einzelnen.
Der Mensch kann weder individuell noch kollektiv aus sich leben, sondern nur aus sich sterben.
Darum ist der Mensch und die Menschheit nur als Sproß, als Organ und Element Gottes möglich, als etwas an und für sich aber unmöglich.
Die Menschheit entzieht sich zwar Gott in zentrifugalem Drange des Lebens, aber Gott läßt sie nicht los.
Er erhält sie trotzdem am Leben und durchwaltet sie schöpferisch, allen tödlichen Wirkungen ihrer Isolierung in sich selbst und der Verweltlichung ihres Daseins zum Trotz.
Selbst das Gericht Gottes ist eine Bezeugung seiner Gnade. Dieser Triumph des Heils im Unheil ist nicht erst ein Werk Jesu, sondern Gottes Wohlgefallen, seine Ehre, sein Schöpfer- und
Heilswille von Anbeginn.
Seine Gnade währt für und für. Jesus hat sie uns neu offenbart, der Menschheit zum Bewußtsein gebracht und, da die Zeit erfüllt war, verkündigt, daß jetzt die Rettung der Menschheit und ihre
Wiederherstellung im Reiche Gottes anhebe, sich zu verwirklichen.
Aber das Werk Jesu wurde ein Raub der Selbstisolierung, der Sünde, des Wahns, der Umnachtung menschlichen Geistes und teilte das Schicksal alles göttlichen Samens und seiner Wirkenskraft, der
in der Menschheit ruht und andauernd gegeben wird.
Durch die Verbindung der beiden Ausdrücke: Offenbarung und Wort Gottes, die zwei Symbole sind: das eine, für das Durchscheinen Gottes im Sein und Geschehen, sowohl im allgemeinen, wie in dem
besonderen Durchbruch seiner rettenden Gnade in Jesus und in dem Kommen seines Reichs, das andere für die Klarheiten und Weisungen von Gott, die von ihm Einzelnen mittelbar gegeben wurden hat
sich die Meinung gebildet und festgesetzt, als ob es ein Wissen von Gott gäbe, das von ihm als eine authentische Aufklärung über sich selbst dargereicht sei und jedermann mitgeteilt werden
könne.
Infolgedessen wähnt man, daß es eine Gotteserkenntnis auf Grund dieser Offenbarung gäbe, die in dem „Wort Gottes" enthalten und durch dasselbe verbürgt sei, die das Geheimnis Gottes geistig
faßbar, begreiflich und mitteilbar mache.
Daraus ergab sich der verhängnisvolle Schritt, daß die Zustimmung zu dieser unfehlbaren Gotteserkenntnis als die Bedingung der Gnade und der Grundlage des Lebens erklärt wurde.
Das aber ist der Grundirrtum der traditionellen Theologie und der gesamten christlichen Religion.
(aus Johannes Müller, "Das Urgeheimnis")
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