Vier Tore III

Das Tor des Erwachens
 
Nachdem du die nichtdualistische Sphäre der Gleichheit der Wirklichkeit erlangt hast, ist es wichtig, der Erwachten tiefgründiges Prinzip der Unterscheidung zu verstehen. Danach musst du die Methoden meistern, fühlenden Wesen zu helfen, sonst wirst du trotz deines unbehinderten Wissens im Nest des Hinayana verweilen und vollständig unbehinderte Erkenntnis nicht erfahren. Dann wird es dir an der Freiheit mangeln, deine Art, den fühlenden Wesen zu helfen, zu ändern und anzupassen, um dich und andere wirklich zu erwecken und jenes höchste Erwachen zu erlangen, wo Gewahrsein und Handeln vollkommen sind. Darum musst du tiefes Mitempfinden und Hingabe entwickeln, damit du allen fühlenden Wesen überall helfen kannst.


Anfangs solltest du Tag und Nacht die Lehren von Buddha und den Patriarchen studieren, damit du die Prinzipien der Dinge in ihrer unendlichen Vielfalt durchdringen kannst. Untersuche und analysiere jede der Tiefgründigkeiten der fünf Häuser und sieben Schulen des Zen und die wunderbare Doktrin der acht Lehren aus den fünf Perioden in Buddhas Lehrzeit.


Wenn du dann noch Energie hast, kläre die tiefen Prinzipien der verschiedenen Philosophien. Wenn es zu verwirrend wird, verschwende aber nicht deine Kraft damit. Solange du die Aussagen von Buddhas und Patriarchen, die schwer zu durchdringen sind, gründlich untersuchst und zu einem klaren Verständnis ihrer Essenz gelangst, wird dich vollkommene Erkenntnis durchdringen und die Prinzipien aller Dinge werden von selbst vollständig klar. Dies nennt man das Auge fürs Lesen der Sutren.


Die wörtlichen Lehren der Buddhas und Patriarchen sind besonders tiefsinnig, darum sollte man nicht glauben, sie gemeistert zu haben, wenn man sie ein oder zwei Mal durchgegangen ist. Wenn du einen Berg erklimmst, wird er höher, je höher du kletterst; tauchst du in einen Ozean ab, wird er tiefer, je tiefer du tauchst. Dies gilt auch hier. Beim Schmieden von Eisen zu einem Schwert ist es am besten, es immer wieder ins Feuer zu tauchen und so zu verfeinern; auch wenn es sich stets um das gleiche Feuer handelt, wird kein herausragendes Schwert entstehen, wenn man es nicht wieder und wieder ins Feuer eintaucht. Durchdringendes Studium ist genauso: Wenn du nicht ins große Feuer der Buddhas und Patriarchen eindringst und dich wiederholt ums Verfeinern bemühst, indem du erduldest und erleidest, kann vollständige und unabhängige Erkenntnis nicht hervorkommen. Die Grenzen von Buddhas und Patriarchen immer wieder zu durchdringen und auf das Potential der Wesen überall auf meisterliche und freie Weise zu reagieren, wird subtile, beobachtende und unterscheidende Erkenntnis genannt. Dies ist der Zustand des vollkommen erfüllten „Belohnungskörpers“, der mit der Richtung Westen assoziiert und das Tor des Erwachens genannt wird. Es ist wie mit der Sonne, die ihren höchsten Stand hinter sich hat und allmählich im Westen untergeht. Auch wenn die Erkenntnis der Gleichheit sich in der Mitte befindet, werden zuweilen die Fähigkeiten der fühlenden Wesen nicht erkannt und die Lehre der Unterscheidung der Dinge kann nicht klargemacht werden. Doch solange du nicht im Reich der Selbsterleuchtung als rein innerliche Verwirklichung verweilst, sondern diese subtile, beobachtende und unterscheidende Erkenntnis kultivierst, hast du getan, was du konntest, und du wirst das Land der Ruhe erreichen. Diese Ruhe entspricht nicht dem Sonnenuntergang, sondern bedeutet, dass du alle Arten der Erkenntnis erlangt und Erwachen verwirklicht hast, denn selbst und andere zu erwecken, Gewahrsein und Handeln zu verwirklichen bedeutet wirkliches letztgültiges Erwachen.

 

(aus "Die vier Arten der Erkenntnis eines Erwachten" von Hakuin Ekaku, übers. v. Gi Do)

 

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