Aus dieser Erkenntnis heraus wollen wir uns also fürchten und unser Herz mit aller Wachsamkeit bewahren vor dem todbringenden Geist des Hochmuts. Dazu wollen wir, wenn wir eine Tugend ins
Werk setzen, uns immer das Wort des Apostels vorsagen: "Aber nicht ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir wirkt," sowie das Wort des Herrn: "Ohne mich könnt ihr nichts tun" und das Wort des
Propheten: "Wenn der Herr das Haus nicht baut, mühen sich vergebens die Bauleute", und noch das folgende: "Es kommt nicht auf den an, der will, noch auf den, der läuft, sondern auf Gott, der das
Erbarmen schenkt." Denn wenn jemand auch im höchsten Grade vor Eifer brennt und strebsam ist in seinem Vorsatz, so ist er doch mit Fleisch und Blut verbunden und wird darum nicht zur
Vollkommenheit zu gelangen vermögen, wenn nicht durch das Erbarmen Christi und seine Gnade. Denn Jakobus sagt: "Jede gute Gabe kommt von oben." Und der Apostel Paulus: "Denn was hast du, was du
nicht empfangen hast? Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen," sondern könntest dich angesichts eigener Leistungen erheben? Dafür aber, daß uns durch die
Gnade und das Erbarmen Gottes das Heil zuteil wird, ist jener Räuber ein zuverlässiger Zeuge. Er hat sich das Himmelreich nicht als Kampfpreis für die Tugend erworben, sondern durch die Gnade und
das Erbarmen Gottes.
Da dies alle unsere Väter wußten, haben sie einmütig überliefert, man könne auf keine andere Weise zur Vollendung der Tugend gelangen als durch die Demut. Sie wird uns ihrem Wesen gemäß vom
Glauben, von der Furcht Gottes, von der Sanftmut und der vollkommenen Armut her zuteil, wodurch auch die vollkommene Liebe verwirklicht wird - durch die Gnade und Menschenliebe unseres Herrn
Jesus Christus, dem die Ehre sei in Ewigkeit. Amen.
(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")
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