5. Traurigkeit I

Über die Traurigkeit

Einen fünften Kampf haben wir gegen den Geist der Traurigkeit zu bestehen; er verfinstert die Seele und macht sie damit unfähig zu jeder geistigen Schau, und er hält sie ab von jeglicher guten Tat. Wenn nämlich dieser böse Geist die Seele mit den Händen umfaßt und sie ganz verdunkelt, gestattet er es nicht, daß sie mit Eifer Gebete verrichtet und bei den nutzenbringenden heiligen Lesungen verharrt; er läßt es nicht zu, daß man sanftmütig und empfindsam gegenüber den Brüdern ist, und flößt einem Haß auf alle Arbeiten und Tätigkeiten und sogar auf das Gelöbnis des Mönchs-Lebens ein. Und hat die Traurigkeit alle heilbringenden Vorhaben der Seele ausnahmslos in Unordnung gebracht und ihre Spannkraft und Festigkeit gelähmt, läßt sie sie gleichsam vernunftlos und betört werden, indem sie sie in den Gedanken der Verzweiflung verstrickt. Darum wollen wir, wenn wir die Absicht haben, den geistigen Kampf zu kämpfen und mit der Hilfe Gottes die Geister der Unzucht zu besiegen, in aller Wachsamkeit unser Herz behüten vor dem Geist der Traurigkeit. Denn wie die Motte das Gewand und der Wurm das Holz, so verzehrt die Traurigkeit die Seele des Menschen. Sie bringt ihn dazu, jeder guten Begegnung aus dem Weg zu gehen, und gestattet ihm weder, von seinen wahren Freunden ein Wort des Rates entgegenzunehmen, noch erlaubt sie ihm, ihnen eine heilsame oder friedvolle Antwort zu erteilen. Vielmehr umfängt sie die ganze Seele und erfüllt sie darauf mit Bitterkeit und Unlust. Und schließlich gibt sie ihr ein, die Menschen zu fliehen, da sie angeblich an ihrer Verwirrung schuld seien. Und sie läßt sie nicht erkennen, daß sie die Krankheit nicht von außen her besitzt, sondern diese in ihrem Innern trägt. Sie wird dann offenbar, wenn die Versuchungen durch den Umgang mit den anderen an die Seele herantreten und sie ans Licht bringen.

Denn niemals wird ein Mensch von einem anderen Schaden erleiden, wenn er nicht in seinem Innern die Ursachen für die Leidenschaften trägt. Und darum fordert uns Gott, der Schöpfer aller Dinge und Arzt der Seelen, der allein die Wunden der Seele genau kennt, nicht auf, den Verkehr mit den Menschen zu verlassen, sondern er fordert uns auf, die in uns bestehenden Ursachen der Schlechtigkeit auszutilgen. Wir sollen erkennen, daß die Gesundheit der Seele nicht dadurch zustande kommt, daß man sich von den Menschen trennt, sondern dadurch, daß man mit den tugendhaften Menschen lebt und sich im Umgang mit ihnen in der Tugend übt. Wenn wir also aus augenscheinlich plausiblen Gründen die Brüder verlassen, haben wir damit nicht auch schon die Ursachen der Traurigkeit beseitigt, sondern sie nur vertauscht; denn die in uns bestehende Krankheit bringt diese Ursachen auch durch andere Dinge wieder zur Wirksamkeit. Darum also sei unser ganzer Kampf gegen die innerlichen Leidenschaften gerichtet. Sind nämlich diese durch die Gnade und Hilfe Gottes aus dem Herzen vertrieben, so werden wir nicht etwa nur mit Menschen, sondern auch mit wilden Tieren mühelos zusammenleben gemäß dem Ausspruch des seligen Job: "Wilde Tiere werden mit dir in Frieden leben."

 

(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")

Kommentar schreiben

Kommentare: 0