4. Über den Zorn VI

Und darum muß bei denen, die die Vollkommenheit der Sanftmut erstreben, jeglicher Eifer vorhanden sein, nicht nur gegen Menschen nicht in Zorn zu geraten, sondern auch nicht gegen die vernunftlosen Geschöpfe und nicht einmal gegen die leblosen Dinge. Ich erinnere mich nämlich, daß ich bei meinem Aufenthalt in der Wüste meinen Zorn gegen das Schreibrohr erregte, weil es zu dick oder zu dünn war. Ebenfalls wurde ich einem Baum gegenüber zornig, als ich ihn umhauen wollte und es nicht gleich vermochte. Und wiederum gegenüber dem Feuerstein, als ich mich bemühte, Feuer herauszuschlagen, und es nicht sofort heraussprühte. Mein Zorn war so heftig, daß ich ihn sogar gegen die empfindungslosen Dinge ausließ.

Verlangen wir also danach, der Seligpreisung des Herrn teilhaftig zu werden, müssen wir, wie gesagt, nicht nur dem äußerlich wirksamen Zorn Einhalt gebieten, sondern auch dem in unserem Denken befindlichen. Es ist nämlich nicht so nützlich, im Augenblick des Zornes den Mund zu beherrschen und keine tobenden Worte auszustoßen, wie das Herz vom alten Groll zu reinigen und in seinem Denken keine bösen Gedanken gegen den Bruder umherschweifen zu lassen. Die Lehre des Evangeliums fordert uns nämlich auf, die Wurzeln der Sünden auszureißen, wenn wir wirklich auch die Früchte daraus entfernen wollen. Denn ist die Wurzel des Zornes aus dem Herzen gerissen, werden weder Haß noch Neid zur Verwirklichung kommen. Es wird ja, wer seinen Bruder haßt, ein Menschenmörder genannt, denn er tötet ihn in seinem Denken durch seine haßerfüllte Verfassung. Die Menschen sehen dessen Blut nicht durch das Schwert vergossen, sondern Gott nimmt wahr, daß es durch das Denken und die haßerfüllte Verfassung ausgetilgt wurde - er, der jedem einzelnen nicht nur für seine Taten, sondern auch für seine Gedanken und Absichten entweder Kränze oder Strafen verabreicht. Genauso spricht er durch den Propheten: "Siehe, ich komme, ihre Werke und Gedanken zu sammeln." Und ebenfalls spricht der Apostel: "Ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an oder verteidigen sich an dem Tag, wo Gott das Verborgene der Menschen richten wird." Auch der Herr selbst lehrt uns, daß man jede Art von Zorn ablegen muß. Er sagt im Evangelium: "Wer seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen sein." So nämlich steht es in den zuverlässigen Handschriften; denn das Wort 'grundlos' wurde zusätzlich eingefügt. Das ist leicht ersichtlich aus der vorliegenden Absicht der Schrift. Das Ziel des Herrn besteht darin, daß wir die Wurzel und den Funken des Zornes auf jede Weise austilgen und in uns auch nicht e i n e n Vorwand für den Zorn bewahren. Wir sollen ja nicht, indem wir uns anfänglich angeblich vernunftgemäß erregen, später der Raserei des unvernünftigen Zornes anheimfallen.

Die vollkommene Heilung dieser Krankheit aber besteht darin, daß wir es glauben, daß es uns weder aus gerechten noch aus ungerechten Gründen erlaubt ist, den Zorn zu erregen. Hat nämlich der Geist des Zornes das Denken verdunkelt, werden wir weder das Licht der Unterscheidung noch die Sicherheit eines guten Entschlusses noch die Leitung der Gerechtigkeit finden. Auch ist es dann unmöglich, daß unsere Seele zum Tempel des Heiligen Geistes wird, denn wenn der Geist des Zornes unser Denken verdunkelt hat, wird er uns beherrschen. Zu guter Letzt aber müssen wir die Ungewißheit des Todes Tag für Tag vor Augen haben und uns so vor dem Zorn hüten. Und wir müssen wissen, daß weder die Sittsamkeit noch die Entsagung von jeglicher Materie noch das Fasten und Wachen etwas nützen, wenn wir - von Zorn und Haß festgehalten - als dem Gericht verfallen erfunden werden.

 

(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")

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Kommentare: 1
  • #1

    C. (Montag, 05 April 2021 08:55)

    So, DAMIT dürften wir eine Weile beschäftigt sein! ^^