4. Über den Zorn V

Es ziemt sich darum, den göttlichen Gesetzen zu folgen und mit aller Kraft gegen den Geist des Zornes und die in unserem Innern befindliche Krankheit zu kämpfen. Auch ziemt es sich, wenn man den Zorn gegen die Menschen erregt, nicht nach Einsamkeit und Alleinsein zu streben, da es dort angeblich keinen gebe, der uns zum Zorn erregt, und weil man im Alleinsein die Tugend der Langmut mühelos werde verwirklichen können. Denn wir streben nach der Zurückgezogenheit von den Brüdern, weil wir hochmütig und nicht gewillt sind, uns selbst zu tadeln und den Grund unserer Erregung der eigenen Nachlässigkeit zuzuschreiben. Solange wir also die Gründe für unsere Schwäche anderen zuschreiben, können wir unmöglich zur Vollendung der Langmut gelangen. Der Hauptanteil an unserer Vervollkommnung und unserem Frieden wird demnach nicht durch die uns erwiesene Langmut des Nächsten geleistet, sondern durch unsere Bereitschaft, die Bosheit des Nächsten zu ertragen. Suchen wir aber die Einsamkeit und das Alleinsein aus Flucht vor dem Kampf um die Langmut, so bleiben alle unsere Leidenschaften, die wir unausgeheilt dorthin wegbringen, verborgen und unausgetilgt. Denn die Einsamkeit und Zurückgezogenheit besitzt denen gegenüber, die sich noch nicht von den Leidenschaften getrennt haben, die Eigenschaft, letztere nicht nur zu bewahren, sondern sie auch zu verbergen. Auch gestattet sie diesen Menschen nicht mehr, bei sich wahrzunehmen, welcher Leidenschaft sie unterliegen. Im Gegenteil, sie stellt ihnen ein Trugbild der Tugend vor Augen und redet ihnen ein, sie hätten die Langmut und die Demut zur Ausführung gebracht - solange es keinen gibt, der sie reizt und prüft. Ergibt sich aber ein Anlaß, der sie erregt und in Bewegung bringt, so reißen die in ihnen bestehenden und zuvor verborgenen Leidenschaften ihren Reiter sofort umso heftiger und wilder ins Verderben wie zügellose Pferde, die von ihrem Startplatz losstürmen und durch die ausgedehnte Einsamkeit und Ruhe genährt wurden. Es werden nämlich die Leidenschaften in uns noch wilder, wenn sie sich ruhig verhalten, da wir nicht durch den Umgang mit den Menschen geübt werden. Und selbst den Schatten der Geduld und Langmut, den wir angeblich zu besitzen schienen, als wir unter den Brüdern weilten, verlieren wir durch die Vernachlässigung des übenden Umgangs mit dem Mitmenschen und durch die Nachlässigkeit beim Alleinsein. Denn wenn die giftigen unter den Tieren in der Einsamkeit und auf ihrem Lager ruhen, legen sie dann erst ihre wilde Wut an den Tag, wenn sie jemanden befallen, der sich ihnen nähert. So speien auch die leidenschaftlichen Menschen, wenn sie nicht aufgrund ihres tugendhaften Zustands, sondern aus dem Zwang der Einsamkeit heraus ein ruhiges Leben führen, ihr Gift dann aus, wenn sie den ergreifen, der ihnen nahe kommt und sie reizt.

 

(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")

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