4. Über den Zorn IV

Darum nämlich gebietet auch der Herr im Evangelium, die Gabe vor dem Altar liegen zu lassen und sich mit dem Bruder zu versöhnen. Denn es ist nicht möglich, daß sie sein Gefallen findet, solange Zorn und alter Groll in uns bestehen. Und auch wenn der Apostel sagt, man solle ohne Unterlaß beten und an jedem Ort heilige Hände erheben ohne Zorn und Streit, lehrt er uns dies. Es bleibt also die Möglichkeit, entweder niemals zu beten und dadurch der Weisung des Apostels gegenüber rechenschaftspflichtig zu sein, oder - eifrig darauf bedacht, die Anordnung einzuhalten - es ohne Zorn und alten Groll zu tun. Oft achten wir es gering, wenn die Brüder unwillig oder empört sind, und sagen, sie seien ja nicht durch unsere Schuld unwillig. Darum gebietet der Arzt der Seelen - will er doch die Ausflüchte der Seele von der Wurzel her aus dem Herzen reißen -, nicht nur dann die Gabe liegen zu lassen und uns zu versöhnen, wenn wir gerade einmal selbst dem Bruder gegenüber unwillig sind, sondern auch wenn er - gerechter- oder ungerechterweise - uns gegenüber unwillig ist, ihn durch die Entschuldigung zu heilen und dann die Gabe darzubringen. Aber warum verweilen wir so lange bei den Weisungen des Evangeliums, wo es uns doch möglich ist, dies auch vom alttestamentlichen Gesetz her zu lernen? Es scheint sogar von milderer Strenge zu sein und spricht: "Hasse nicht deinen Bruder in deinem Herzen!" Und wiederum: "Die Wege des Nachtragenden führen in den Tod." Hier verwehrt es nicht nur den äußerlich wirksamen Zorn, sondern tut auch jenem Einhalt, der sich in unserem Denken abspielt.

 

(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")

Kommentar schreiben

Kommentare: 0