Wir gebrauchen den Zorn nur dann naturgemäß, wenn wir ihn gegen die leidenschaftlichen und genußsüchtigen Gedanken erregen. So belehrt uns der Prophet mit den Worten: "Zürnt und sündigt nicht!" Das heißt, erregt den Zorn gegen die eigenen Leidenschaften und die bösen Gedanken und sündigt nicht, indem ihr ausführt, was euch von ihnen eingegeben wird. Diese Auffassung wird zur Genüge deutlich durch das, was gleich darauf hinzugefügt wird: "Über das," heißt es, "was ihr in eurem Herzen sprecht, werdet zerknirscht auf eurem Lager." Das bedeutet: wenn die bösen Gedanken in euer Herz dringen und ihr sie daraus verjagt durch den auf sie gerichteten Zorn, so werdet nach deren Vertreibung, wenn ihr euch sozusagen auf dem Lager der Ruhe eurer Seele befindet, zerknirscht zur Sinnesänderung. Damit stimmt auch der heilige Paulus überein, wenn er dieses Schrift-Zeugnis gebraucht und hinzufügt: "Die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn; auch gebt dem Teufel keinen Raum." Das bedeutet: veranlaßt nicht die Sonne der Gerechtigkeit, Christus, indem ihr ihn durch die Zustimmung zu den schlechten Gedanken erzürnt, über eurem Herzen unterzugehen, damit nicht, indem sich dieser zurückzieht, der Teufel in euch Raum finde. Über diese Sonne spricht auch Gott durch den Propheten: "Denen aber, die meinen Namen fürchten, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen. Und in ihren Flügeln wird Heilung sein." Fassen wir aber obigen Ausspruch buchstäblich auf, so ist es uns nicht einmal bis zum Untergang der Sonne erlaubt, den Zorn beizubehalten. Was sollen wir also über jene sagen, welche in der Wildheit und im Wahn ihres leidenschaftlichen Zustands den Zorn nicht nur bis zum Untergang dieser Sonne bewahren, sondern ihn sogar auf sehr viele Tage ausdehnen? Dabei verschweigen sie ihn voreinander und tragen ihn nicht mehr durch Worte zur Schau. Doch durch das gegenseitige Schweigen vermehren sie zu ihrem eigenen Verderben das Gift des alten Grolls. Denn sie wissen nicht, daß man sich nicht nur von dem Zorn zurückhalten muß, der nach außen wirksam ist, sondern auch von demjenigen, der in unserem Denken existiert. Sonst wird der Geist durch die Finsternis des alten Grolls verdunkelt, fällt dann aus dem Licht der Erkenntnis und der Unterscheidung und wird der Einwohnung des Heiligen Geistes beraubt.
(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")
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