Wer also zur Vollkommenheit gelangen will und danach trachtet, den geistigen Kampf nach den Regeln zu kämpfen, der sei jedem Vergehen des Zornes und der Wut fremd. Er höre, was ihm das Gefäß der Auserwählung aufträgt: "Jede Art von Bitterkeit, Zorn, Wut, Geschrei und Lästerung", sagt er, "werde zusammen mit jeder Bosheit von euch entfernt." Wenn er aber sagt: "Jede Art", läßt er uns keinen Vorwand für den Zorn übrig, ob er nun angeblich zwingend notwendig oder plausibel sei. Wer also seinen Bruder, wenn dieser sündigt, zurechtweisen oder ihm eine Strafe auferlegen will, sei darauf bedacht, sich selbst von Erregung frei zu bewahren, damit er nicht bei seiner Absicht, jemand anderen zu heilen, sich selbst die Krankheit zuziehe. Es wird dann zu ihm jenes Wort des Evangeliums gesprochen: "Arzt, heile dich selbst!" Und wiederum: "Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?" Denn aus welchem Grund auch immer die Wallung des Zornes überkocht und die Augen der Seele blind macht, sie läßt letztere die Sonne der Gerechtigkeit nicht sehen. Ob nämlich jemand goldene oder bleierne Scheibchen auf die Augen legt, er behindert in gleicher Weise die Sehkraft, und der Wert des goldenen Scheibchens macht in keiner Hinsicht einen Unterschied in der Blindheit. Ebenso wird auch die Sehkraft der Seele verdunkelt, aus welchem Grund auch immer - sei er nun offenbar vernünftig oder unvernünftig - der Zorn entfacht wurde.
(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")
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