2. Geist und Begierde II

Wenn wir danach trachten, nach den Regeln zu kämpfen und dadurch bekränzt zu werden, wie der Apostel sagt, wollen wir also nach unserem Sieg über den unreinen Geist der Unzucht nicht auf unsere Kraft und Askese bauen, sondern auf die Hilfe unseres Herrn und Gottes. Es erfährt ja der Mensch kein Ende der Bedrängnis von seiten dieses Geistes, bevor er nicht in Wahrheit davon überzeugt ist, daß er nicht aus eigenem Streben noch aus eigener Anstrengung, sondern nur durch den Schutz und die Hilfe Gottes von dieser Krankheit befreit wird und zur Höhe der Keuschheit gelangt. Diese Angelegenheit übersteigt unsere Natur, und in gewisser Weise verläßt seinen Leib, wer die Reize des Fleisches und seine Lüste niedergetreten hat. Darum ist es auch unmöglich, daß ein Mensch sozusagen mit eigenen Flügeln zu diesem erhabenen und himmlischen Siegespreis der Heiligkeit emporfliegt und ein Nachahmer der Engel wird, wenn ihn nicht etwa die Gnade Gottes von der Erde und vom Schlamm emporhebt. Durch keine andere Tugend nämlich werden die mit dem Fleisch verbundenen Menschen den geistigen Engeln mehr ähnlich wie durch die der Sittlichkeit. Denn durch diese spielt sich gemäß dem Apostel ihr Wandel im Himmel ab obwohl sie noch auf Erden sind und leben. Ein Beweis dafür aber, daß wir diese Tugend vollkommen besitzen, besteht darin, daß sich unsere Seele im Schlaf mit keinem Bild schamloser Vorstellung beschäftigt. Denn wenn eine solche Regung auch nicht als Sünde gilt, so ist sie doch ein Zeichen, daß die Seele krank und noch nicht frei von der Leidenschaft ist. Und darum müssen wir uns davon überzeugen lassen, daß die schamlosen Vorstellungen, die uns im Schlaf begegnen, ein Beweis sind für die vorhergehende Leichtfertigkeit und die in uns herrschende Kränklichkeit; denn die Wallung, die uns widerfährt, macht in der Entspanntheit des Schlafes die Krankheit sichtbar, welche in den verborgenen Schichten unserer Seele versteckt ist.

Darum hat auch der Arzt unserer Seelen die Arznei in die verborgenen Schichten der Seele dringen lassen, wo er auch die Gründe der Krankheit erkannte, indem er sprach: "Wer eine Frau lüstern angeschaut hat, hat bereits in seinem Herzen die Ehe mit ihr gebrochen." Damit wies er nicht so sehr die neugierigen und unzüchtigen Augen zurecht, als vielmehr die im Innern sitzende Seele, welche die ihr von Gott zum Guten verliehenen Augen schlecht gebraucht. Daher sagt auch das weise Sprichwort nicht: "Mit aller Wachsamkeit behüte deine Augen", sondern: "Mit aller Wachsamkeit behüte dein Herz!" Damit wendet es die Heilung der Wachsamkeit vor allem auf dieses Herz an, welches die Augen gebraucht, wozu es will.

 

(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")

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