1. Beherrschung des Magens II

Die Schwächlichkeit des Leibes steht nicht im Widerspruch zur Reinheit des Herzens, solange wir dem Leib gewähren, was die Schwäche fordert, nicht was die Lust will. Der Verzehr der Speisen wird herangezogen, insofern er dem Leben dient, aber nicht, insofern er den Trieben der Begierde frönt. Der angemessene und vernunftgemäße Genuß der Speisen erlangt die Gesundheit des Leibes, doch raubt er nicht die Heiligkeit. Eine feste Richtschnur und Norm für die Enthaltsamkeit, welche von den Vätern überliefert wurde, besteht darin, daß der, welcher irgendeine Speise zu sich nimmt, davon abläßt, während er noch Verlangen verspürt, und nicht bis zur Sättigung wartet. Und wenn der Apostel spricht: "Sorgt nicht für das Fleisch, daß es begehrlich wird", hindert er uns nicht an der notwendigen Regelung des Lebens, sondern er verbietet die genußsüchtige Fürsorge.

Zudem vermag für die vollkommene Reinheit der Seele die Enthaltsamkeit von Speise allein nichts, wenn nicht auch die übrigen Tugenden mitwirken. So bringt uns denn auch die Demut durch die gehorsame Unterwerfung unter die Arbeit und die Ermüdung des Leibes großen Gewinn. Das Ablassen von der Habsucht - nicht allein, daß man kein Hab und Gut besitzt, sondern auch, daß man nicht begehrt, es zu besitzen - führt zur Reinheit der Seele. Das Abstehen vom Zorn, von der Traurigkeit, von der eitlen Ehrsucht, vom Hochmut - all dies bewirkt die umfassende Reinheit der Seele. Die durch die Sittlichkeit gewirkte teilweise Reinheit der Seele vollenden in vorzüglicher Weise Enthaltsamkeit und Fasten. Denn unmöglich kann jemand mit sattem Bauch in seinem Denken mit dem Dämon der Unzucht kämpfen.

Es soll also unser erster Kampf darin bestehen, über den Magen Herr zu sein und den Leib zum Sklaven zu machen - nicht allein durch Fasten, sondern auch durch Wachen, Arbeit, Lesung und dadurch, daß man das Herz sammelt und zur Furcht vor der Hölle und zur Sehnsucht nach dem Reich der Himmel führt.

 

(Johannes Cassianus der Römer, "Über die acht Gedanken der Lasterhaftigkeit")

Kommentar schreiben

Kommentare: 0