Eine Variante

aus: SERBIAN STUDIES RESEARCH Vol. 9, No. 1, 2018
Association for the Development of Serbian Studies, Novi Sad:

 

 

Die Volkserzählung aus Serbien „Hilf mir nicht, lieber Gott” („Не помози, Боже”), aufgezeichnet von Vuk Karadžić um 1850 fiel mir wegen ihrer frappanten Ähnlichkeit mit einer Legende des Wolga-Gebiets auf, die von Leo Tolstoi in seiner Erzählung „Die drei Eremiten” („Три старца”) literarisch wiedergegeben wurde.


Die serbische Legende geht so (eigene Übersetzung):


Als der hl. Nikolaus einmal spazieren ging, traf er am Meer einen Menschen, der ständig rief: „Hilf mir nicht, lieber Gott!” Als der Heilige ihn fragte, was er mit diesen Worten bezwecke, antwortete ihm jener, er bete zu Gott. Da entgegnete ihm der hl. Nikolaus, so bete man doch nicht zu Gott, sondern man müsse sagen „Hilf mir, lieber Gott!” Der Mensch folgte dem Rat gern und begann sogleich so zu rufen, wie ihm der Heilige gesagt hatte. Nachdem der hl. Nikolaus das Schiff bestiegen hatte und aufs Meer gefahren war, vergaß der Mensch sofort, was ihn der Heilige gelehrt hatte, und so rief er ihm vom Ufer zu, er möge zurückkehren, um ihm das richtige Gebet noch einmal zu sagen; als er aber sah, dass seine Stimme ungehört blieb, riss er eilends seine Kleidung von der Schulter, breitete sie auf dem Meer aus und begann mit seinen Armen zu rudern, um zum Heiligen zu gelangen. Als er auf diese Weise das Schiff erreichte, rief er dem hl. Nikolaus zu: „Na, wie sollte ich zu Gott beten?” Da der hl. Nikolaus dieses Wunder sah, dachte er bei sich: „Wenn der so das Meer überqueren kann, dann ist sein Gebet, mag er sagen, was er will, gottgefälliger als meins„ und antwortete ihm: „Wie bisher, wie bisher”.

 

 

Tolstoi erzählt uns kurz gefasst Folgendes:


Ein Bischof fuhr einmal mit dem Schiff von Archangelsk zum Solowezki-Kloster. Von einigen Mitreisenden hörte er, dass nicht weit von ihrer Schiffsroute eine Insel liege, auf der drei hochbejahrte, in Lumpen gekleidete Einsiedler lebten, die im Ruf von Heiligen stünden. Das weckte das Interesse des Bischofs, der den Kapitän bat, ein wenig vom Kurs abzuweichen und ihn zum Inselchen zu bringen. Der Kapitän versuchte anfangs, ihn umzustimmen: Diese Mönche seien alt und kindisch. Schließlich jedoch lenkte er das Schiff zur Insel. Es ging in einiger Entfernung von der Küste vor Anker und Matrosen brachten den Bischof in einem Ruderboot an Land. Dort stieß er auf die Greise, segnete und fragte sie, was sie zu ihrer Seelenrettung täten, wie sie Gott auf der kleinen Insel dienten und wie sie beteten. Der älteste antwortete: „Wir beten folgendermaßen: ‘Drei Du und drei wir, erbarme Dich unser᾽”; sogleich erhoben die drei ihren Kopf zum Himmel und wiederholten das Gebet. Der Bischof lächelte und erklärte ihnen gütig, sie hätten zwar etwas von der Heiligen Dreifaltigkeit gehört und wollten Gott danken, machten das aber nicht richtig. So begann er sie das Grundwissen über die Fleischwerdung des Herrn und das Mysterium der Dreifaltigkeit zu lehren. Danach betete er ihnen das Vaterunser vor und ließ sie es wiederholen. Anfangs hatten sie Schwierigkeiten damit, lernten es aber schließlich auswendig, nachdem sie einen ganzen Tag geübt hatten. Gegen Abend war der Bischof sicher, seine Mission vollendet zu haben, und schickte sich zum Aufbruch an. Er verabschiedete sich von den Alten, die ihm zu Füßen fielen und ihn anbeteten; er hieß sie aufstehen, küsste jeden einzelnen und betonte, sie sollten so beten, wie er es sie gelehrt hatte. Dann ging er ins Boot und kehrte zum Schiff zurück. Als die Insel nicht mehr zu sehen war, sah der Bischof, der auf dem Deck saß, plötzlich auf der Linie des Widerscheins des Mondes etwas Weißes glänzen und glaubte anfangs, es sei eine Möwe oder das Segel eines anderen, kleineren Schiffes. Als sich jedoch der Lichtschein mit großer Geschwindigkeit näherte und dabei war, sie einzuholen, erhob er sich und fragte den Steuermann, was dieses Licht bedeute. Da sahen beide voller Schrecken die drei Einsiedler, wie sie strahlend leuchtend, ohne dabei die Beine zu bewegen, über das Wasser glitten und wie ihre Bärte glänzten.


Bevor das Schiff anhielt, sagten sie wie mit einer Stimme zum Bischof: „Diener Gottes, wir haben deine Lehre vergessen. Solange wir sie wiederholten, war sie uns erinnerlich, doch als wir kurz aufhörten, das Vaterunser zu sagen, entfiel uns zuerst ein Wort und danach... wie schade! Jetzt haben wir es total vergessen. Sag es uns noch einmal!”.


Der Bischof schlug sein Kreuz und sagte zu ihnen: „Euer Gebet wird zum Herrn gelangen. Ich bin es nicht wert, euch zu lehren. Betet für uns Sünder!”.

 


Vergleichen wir die beiden Legenden, schälen sich folgende Motive heraus:


1) Ein hochrangiger Kirchenmann (Bischof in der russischen Legende, und in der serbischen einer der größten Heiligen der Orthodoxen Kirche) begegnet drei auf den ersten Blick naiven Eremiten (russische Legende) oder einem gleichfalls einfältigen Bauern (serbische Legende).
2) Die Eremiten / Der Bauer beten nicht richtig.
3) Der Kirchenmann übernimmt es, sie das richtige Gebet zu lehren (das Vaterunser in der russischen Legende und die Anrufung „Hilf, lieber Gott“ in der serbischen).
4) Die drei Eremiten / Der Bauer folgen dem Kirchenmann bereitwillig und demütig und tun alles, um richtig zu beten.
5) Nach Beendigung seiner Mission fährt der Kirchenmann mit einem Schiff weg.
6) Gleich nach der Abfahrt des Kirchenmanns merken die Mönche / der Bauer, dass sie das richtige Gebet vergessen haben.
7) Um es erneut zu lernen, beeilen sich die drei Eremiten, das schon weit entfernte Schiff zu erreichen „indem sie auf den Wellen gehen“ und so das Wunder des Herrn wiederholen (Mt 14, 22–24, Mk 6, 45–52, Joh 6, 16–21), während der Bauer seine Kleider aufs Meer wirft und sie als Boot und seine Arme als Ruder benutzt.
8) Die Mönche / Der Bauer holen das Schiff ein und bitten den Kirchenmann, ihnen das richtige Gebet zu lehren, das sie vergessen hatten.
9) Furcht des Kirchenmannes vor dem gewaltigen Wunder. Der Bischof schlägt sein Kreuz, während der hl. Nikolaus, Heiliger der Schiffahrt, seine Wunder überschattet sieht von dem, was der Bauer leistete.
10) Demütigung des Kirchenmannes: Der Bischof sagt zu den Eremiten, ihr Gebet werde vom Herrn erhört, und er sei unwürdig, sie es zu lehren; der hl. Nikolaus gesteht ebenso, dass Gott sich mehr über das Gebet eines ungebildeten Bauern als über seins freue.
11) Damit verbundene Aufforderung des Bischofs an die Mönche, für seine Seele zu beten, ebenso für alle anderen Sünder / des hl. Nikolaus an den Bauern, weiterhin auf seine alte, unorthodoxe Weise zu beten.


Ich kann nicht wissen, ob und bis zu welchem Grad Tolstoi in die ursprüngliche Legende eingegriffen hat, indem er z.B. die drei Alten ihr asketisches Leben in der ungastlichsten und feindlichsten Umgebung führen lässt, die man sich vorstellen kann (eine kleine Insel im Arktischen Ozean), und sie als Polaräquivalent der Kirchenväter in der Wüste darstellt, was ihre Heiligkeit natürlich noch stärker unterstreichen würde. Ebenfalls weiß ich nicht, ob es auch Tolstois Idee war, die drei Askese Übenden am Ende der Erzählung mit einem intensiven und suggestiven Glanz zu umgeben: Der russische Schriftsteller beharrt besonders auf diesem Punkt: Die drei Alten - nach dem Bild der Heiligen Dreifaltigkeit - sind zur Vereinigung mit dem Göttlichen gelangt und strahlen wie in „thaborischem” Licht; deswegen bringen sie auch das Gotteswunder mit solcher Leichtigkeit zustande. Diese zutiefst theologischen Elemente fehlen in der - eher grobgeschnitzten - serbischen Variante. In dieser begegnet indessen ein anderes Element, wohl „lateinischer” Herkunft: das Kleidungsstück, das der Bauer ins Wasser wirft, um es als Boot zu benutzen.


Diesem Motiv begegnen wir auch bei vielen Viten westlicher Heiliger: So überquert z.B. der hl. Franziskus von Paola die Meerenge von Sizilien zusammen mit einem anderen Mönch; der hl. Raimund von Peñafort reist auf ähnliche Weise von Mallorca nach Barcelona, während der hl. Hyazinth von Polen (Jacek Odrowąż) auf die gleiche Weise die über die Ufer getretene Weichsel überquert, wobei er sein „Boot” noch mit drei Gefährten beschwert hat, und später zu Fuß den Dnjepr.

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