16 Die Einsichten dieser Zeit hat der Herr wie Schafe den guten Hirten - den Menschen - übergeben. Und es steht geschrieben: "Er hat jedem Menschen die Einsicht gegeben in seinem Herzen",
wobei er mit ihr liebevolles Verlangen und Zorn verbunden hat zu seiner Hilfe. So soll er mittels des Zornes die Einsichten des Wolfes verjagen, durch das Verlangen aber die Schafe liebevoll
hegen, auch wenn er häufig von Regenschauern und Stürmen getroffen wird. Darüber hinaus hat er ihm auch das Gebot gegeben, die Schafe zu weiden; auch gab er ihm einen Ort saftigen Grüns, das
Wasser der Ruhe, Psalterium und Harfe, Stock und Hirtenstab. Er soll sich so von dieser Herde nähren und kleiden und das Gras auf den Bergen sammeln. Denn "wer", heißt es, "weidet eine Herde und
genießt nicht von ihrer Milch?'
Es muß also der Anachoret Tag und Nacht diese Herde behüten, damit keines von der Jungtieren zur Beute der wilden Tiere werde oder Räubern in die Hände falle. Wenn aber wirklich so etwas
geschehen sollte in waldiger Schlucht, muß er es sogleich dem Rachen des Löwen oder Bären entreißen. Es wird aber die Einsicht über den Bruder zur Beute der wilden Tiere, wenn sie zusammen mit
Haß in uns weidet. Dasselbe geschieht mit der Einsicht über die Frau, wenn sie sich in uns mit schändlicher Begierde umherbewegt, und mit jener über Silber und Gold, wenn sie zusammen mit
Habsucht eingepfercht ist, sowie mit den Einsichten über die heiligen Gnadengaben, wenn sie zusammen mit eitler Ehrsucht in unserem Denken grasen. Und bei den anderen Einsichten wird dasselbe der
Fall sein, wenn sie von den Leidenschaften erbeutet werden. Doch nicht nur bei Tage muß man auf sie aufpassen, sondern sie auch nachts wachend behüten. Auch wenn man schändliche und böse
Vorstellungen hegt, geschieht es nämlich, daß man das Eigene verliert. Dies ist es, was vom heiligen Jakob gesprochen wurde: "Ich brachte dir kein gerissenes Schaf, ich habe dir ersetzt, was Tag
und Nacht Raub der wilden Tiere wurde. Am Tage wurde ich von der Hitze, bei Nacht vom Frost verzehrt. Der Schlaf wich von meinen Augen."
Stellt sich aber aufgrund der Mühe irgendeine Unlust bei uns ein, so wollen wir ein wenig emporeilen zum Felsen der Erkenntnis und uns mit dem Psalterium beschäftigen, indem wir die Saiten
der Erkenntnis mittels der Tugenden anschlagen. Und wir wollen die Schafe wieder weiden, und zwar am Fuß des Sinai, damit der Gott unserer Väter auch uns aus dem Dornbusch rufe und uns die
erklärenden Worte über Zeichen und Wunder gewähre.
(Evagrios Pontikos - 23 Kapitel über die Unterscheidung der Leidenschaften und Gedanken 16)
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C. (Sonntag, 21 Februar 2021 09:54)
Treffende Bilder, die aber teilsweise erstmal entschlüsselt werden müssen. Evagrios = Daumen hoch!
C. (Sonntag, 21 Februar 2021 09:54)
Steckt 'ne Menge drin.
Linda (Dienstag, 23 Februar 2021 07:20)
Was ich zu verstehen meine ist, dass wir alles bekommen haben, um in unserem Leben den richtigen Weg einschlagen zu können. Sogar schützen können wir uns selbst, aber das müssen wir auch wollen!
Und wenn wir Hilfe benötigen, bekommen wir diese auch!!
Ruth Gabriel (Dienstag, 23 Februar 2021 20:47)
Ein Versuch:
„Einsicht ist mehr als die Erkenntnis dieser oder jener Sachlage. Sie enthält stets ein Zurückkommen von etwas, worin man verblendeterweise befangen war." (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Hermeneutik I, Tübingen 1990, S. 362.)
Uns allen wurde also ein "Zurückkommen" ins Herz gegeben, das wir durch Aufgeben unserer Verblendung, die uns unfrei macht, wieder entdecken/erleben.
Einsicht des Wolfes: Einsicht, die von den Leidenschaften, der animalischen Ebene, des Egos dominiert wird und somit für die Dominanz und der Verwechslung mit der AP sorgt.
Mittels des Zorns verjagen: sich nicht von der AP gefallen lassen, von ihr dominiert zu werden, sondern das Steuer selbst in die Hand zu nehmen.
Durch liebevolles Verlangen die Schafe hegen, auch bei Regen und Sturm: aktiv und voller Liebe dem Drang nach Entwicklung/ der Weg-Arbeit nachgehen, auch wenn es ungewohnt und ungemütlich für die AP ist.
Die Schafe weiden: am Wachstum arbeiten
Sich selbst von der Herde nähren und kleiden: Als Weg-Arbeiter Entwicklungsschritte stets weiter als Basis für weitere Entwicklung zu nutzen und diese Entwicklung innerhalb der drei Säulen zum Ausdruck bringen.
Das Gras auf den Bergen sammeln: Inspiration, die wieder den Einsichten zugute kommen und diese vertiefen.
Wer weidet eine Herde und genießt nicht von ihrer Milch: Welcher Weg-Arbeiter erfreut sich nicht nur des Weges, sondern nicht auch der Früchte des Weges?
Es bedarf großer Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Bewusstheit, um besonders junge, neue und zarte Einsichten nicht wieder an das Ego, die Integrationsfähigkeit der AP zu verlieren. Wenn dies in einem Moment der Unachtsamkeit passiert, müssen wir, sobald wir es bemerken, sofort wieder das Steuer in die Hand nehmen. Denn all unsere Einsichten werden von unserem Ego benutzt und stärken es sogar, wenn wir uns nicht von unseren Leidenschaften befreien können. Einsichten, die uns freier werden lassen, die wir aber unseren Begierden unterwerfen und für egoistische Zwecke nutzen, stärken nur die Dominanz unserer AP. Wir dienen dann mit allem dem falschen Herrn.
K (Freitag, 26 Februar 2021 12:34)
Eine ganz wunderbare Interpretation von RG.
Emporeilen zum Felsen der Erkenntnis und die Saiten der Erkenntnis mittels der Tugenden anschlagen.
Emporeilen und nicht langsam schlendern oder abwarten.
Die Erkenntnis sollte unerschütterlich über den Emotionen der AP stehen.
Die "Tugenden" stehen für rechte Ausrichtung/ geläuterte Emotionen, die nicht AP-dominiert sind.
"...auch gab er ihm einen Ort saftigen Grüns, das Wasser der Ruhe, Psalterium und Harfe, Stock und Hirtenstab."
Ort saftigen Grüns: ätherische Vitalität, die uns jederzeit zur Verfügung steht (?)
Wasser der Ruhe: So wie das Wasser Voraussetzung dafür ist, dass Leben sich entwickeln und erhalten kann, so ist die Ruhe die Grundvoraussetzung dafür, am Wachstum zu arbeiten und den "Weg-Arbeiter"-Weg zu gehen. Das Beschreiten des "Weg-Arbeiter"-Weges sollte immer auf Ruhe gegründet sein.
Psalterium (als Urform von Zither und Hackbrett laut Wikipedia) und Harfe: Musizieren mit Musikinstrumenten als Symbol dafür, diese Weg-Arbeit mit spielerlicher Leichtigkeit und "künstlerisch/kreativer, ans göttliche angeschlossene, Inspiration" zu betreiben.
Stock und Hirtenstab: laut Wikipedia: "Im altägyptischen Totenbuch gehörte der Krumm- beziehungsweise Hirtenstab zum Ausrüstungsgegenstand von Osiris in seiner Funktion als Richter über die Toten. Mit dem Hirtenstab besaß Osiris die Macht, über den Eintritt in das Jenseits zu entscheiden und der Ba-Seele zur täglichen Wiedergeburt zu verhelfen. Außerdem konnte der Krummstab als Werkzeug zum Heranziehen von Tieren benutzt werden. Damit bildete der altägyptische Hirtenstab die Vorlage, die im Bischofsstab fortlebte." ... lässt wiederum Raum für weitere Deutungsmöglichkeiten...
Ganz spontan fällt mir zum Stock ein: Die vertikale Ausrichtung des Stocks als Symbol für das stete Verbundensein von Geist und Materie. Am Wachstum arbeiten (Schafe Weiden) mit dem steten vertikalen "Draht nach oben".
Ja, ja, der Evagrios ist echt ein Fuchs :)