23 Kapitel 9-10

9 Der Haß wider die Dämonen trägt entschieden zu unserem Heil bei und ist vorteilhaft für die Verwirklichung der Tugend. Doch vermögen wir diesen - so wie eine gute Frucht - nicht in uns großzuziehen. Denn die Geister der Genußsucht zerstreuen ihn und rufen die Seele von neuem zur Freundschaft und zum Umgang mit sich auf. Diese Freundschaft jedoch, oder vielmehr dieses schwer zu heilende Krebsgeschwür, heilt der Arzt der Seelen durch Verlassenheit. Er läßt es nämlich zu, daß wir durch diese Geister Tag und Nacht manch Fürchterliches erleiden. Und so kehrt die Seele schleunigst wieder zum anfänglichen Haß zurück und wird belehrt, zum Herrn in Anlehnung an David zu sprechen: "Mit glühendem Haß hasse ich sie, sie sind mir zu Feinden geworden."

Es haßt nämlich seine Feinde mit glühendem Haß, wer weder in Werken noch in Gedanken sündigt. Dies ist ein Kennzeichen der höchsten und vorzüglichsten Leidenschaftslosigkeit.


10 Über den Dämon aber, welcher die Seele gefühllos macht, was soll man über ihn noch sagen? Denn ich scheue mich, über ihn zu schreiben - darüber, wie die Seele zur Zeit seiner Anwesenheit die ihr eigene Verfassung verläßt und die Furcht des Herrn und die Frömmigkeit abstreift; wie sie die Sünde nicht als Sünde ansieht, das Unrecht nicht für Unrecht hält; wie sie an die ewige Strafe und Verurteilung nur wie an ein bloßes Wort denkt und wirklich das flammende Erdbeben verlacht; wie sie Gott zwar augenscheinlich bekennt, doch sein Gebot nicht kennt. Du schlägst dich an die Brust, da sich deine Seele auf die Sünde zubewegt, doch sie nimmt es nicht wahr. Du sprichst mit ihr von der Schrift, doch sie ist ganz abgestumpft und hört es nicht. Du stellst ihr den Tadel von seiten der Menschen vor Augen, doch sie nimmt es sich nicht zu Herzen; du zeigst ihr die Schmach vor den Menschen auf, doch sie merkt es nicht - wie ein Schwein, das die Augen geschlossen und das Gehege durchbrochen hat.

Diesen Dämon bringen die Gedanken der eitlen Ehrsucht herbei, wenn sie lange bestanden haben. Würden nicht diese seine Tage abgekürzt, würde kein Mensch gerettet. Dieser Dämon nämlich findet sich bei jenen, die sich selten zu den Brüdern begeben. Der Grund liegt auf der Hand. Dieser Dämon wird ja vertrieben angesichts des Unglücks anderer, welche von Krankheiten bedrängt werden, im Gefängnis ein unglückliches Dasein fristen oder einem plötzlichen Tod anheimfallen. Denn dadurch wird die Seele allmählich tief betrübt, sie bekommt Mitleid, und die vom Dämon stammende Verhärtung wird gelöst. An solchen Gelegenheiten leiden wir Mangel wegen der Einsamkeit und darum, weil bei uns selten jemand krank ist. Da der Herr diesen Dämon aufs wirksamste vertreiben wollte, hat er im Evangelium geboten, nach den Kranken zu sehen und die zu besuchen, die im Gefängnis sitzen. "Denn ich bin krank gewesen," sagt er, "und ihr seid zu mir gekommen."

Doch muß man folgendes wissen: Ist ein Anachoret diesem Dämon in die Hände gefallen und hat er doch keine unzüchtigen Gedanken aufgenommen oder sein Haus nicht aus Unlust verlassen, so hat dieser Standhaftigkeit und Besonnenheit vom Himmel her empfangen und ist selig wegen dieser so vorzüglichen Leidenschaftslosigkeit. Alle aber, welche geloben, sich in der Frömmigkeit zu üben und es vorziehen, mit Weltleuten zusammenzuleben, sollen sich vor diesem Dämon in acht nehmen. Ich nämlich scheue mich, über ihn noch mehr zu sagen oder zu schreiben, und ich scheue auch die Menschen.

 

(Evagrios Pontikos - 23 Kapitel über die Unterscheidung der Leidenschaften und Gedanken 9-10)

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