23 Kapitel - 8

8 Es gibt einen Dämon, den man den Irreführer nennt und der an die Brüder vornehmlich zur Morgenzeit herantritt. Er führt den Geist herum von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf und von Haus zu Haus, ihn, der ja angeblich nichts anderes tut, als mit anderen zusammenzukommen. Mit manchen Bekannten kommt er länger zusammen und verdirbt seine eigene Verfassung, indem er diese an diejenigen anpaßt, die ihm begegnen. So entfernt er sich Schritt für Schritt weit von der Erkenntnis Gottes und vergißt die Tugend und sein Gelöbnis.

Der Anachoret muß also diesen Dämon beobachten, woher er kommt und wo er aufhört. Er zieht ja diesen großen Kreis nicht planlos und auch nicht so, wie es sich gerade ergibt. Vielmehr tut er es, da er die Verfassung des Anachoreten verderben will. Ist der Geist davon entflammt und durch die vielen Begegnungen berauscht, soll er sogleich dem Dämon der Unzucht, des Zorns oder der Traurigkeit in die Hände fallen, denn diese zerstören am meisten den Glanz seiner Verfassung. Wenn wir aber wirklich die Absicht haben, seine Umtriebe genau zu erkennen, dann dürfen wir nicht sogleich zu ihm sprechen noch ihm kundtun, was sich abspielt, wie er in Gedanken die Begegnungen herbeiführt und auf welche Weise er den Geist Stück für Stück in den Tod treibt, denn er wird vor uns dann fliehen. Er kann es nämlich nicht haben, daß er bei diesen Machenschaften beobachtet wird, und wir werden hernach nichts wissen von dem, was wir zu erfahren trachteten. Lassen wir ihn vielmehr noch einen oder zwei Tage sein Schauspiel vollenden, damit wir seine Intrige genau in Erfahrung bringen und ihn danach vertreiben, indem wir ihn mit einem treffenden Wort überführen. Wenn aber unser Geist zum Zeitpunkt  der Versuchung gerade einmal nicht klar ist, so daß er nicht genau sehen kann, was sich abspielt, dann soll es geschehen, nachdem sich der Dämon davongemacht hat. Setz dich hin, und erinnere dich ganz für dich an das, was dir widerfahren ist, von wo aus du begonnen hast, wohin du dich begeben hast und an welchem Ort du vom Geist der Unzucht, des Zorns oder der Traurigkeit ergriffen wurdest und wie weiterhin das Geschehen ablief. Dies erforsche genau und übergib dem Gedächtnis, damit du ihn überführen kannst, wenn er sich dir nähert. Tu ihm den Ort kund, den er verborgen hält, und folge ihm in Zukunft nicht mehr. Willst du ihn aber sogar zur Raserei auffordern, überführe ihn, sobald er an dich herangetreten ist, und offenbare ihm in Worten den ersten Ort, zu dem du gekommen bist, und dann den zweiten und den dritten. Er ist dann nämlich überaus ungehalten, da er diese Schande nicht erträgt. Daß du aber treffend zu ihm gesprochen hast, sollst du daran erkennen, daß der Gedanke von dir Reißaus genommen hat. Denn unmöglich kann er bleiben, wenn er offensichtlich überführt wird.

Jedoch folgt auf die Niederlage dieses Dämons ein äußerst schwerer Schlaf; man ist wie gestorben, und die Augenlider werden ganz gefühllos; endloses Gähnen stellt sich ein, und die Schultern werden schwer. Dies alles jedoch macht der Heilige Geist auf das inbrünstige Gebet hin zunichte.

 

(Evagrios Pontikos - 23 Kapitel über die Unterscheidung der Leidenschaften und Gedanken 8)

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Kommentare: 1
  • #1

    Linda (Dienstag, 16 Februar 2021 07:07)

    Das ist dann wohl, kurz gesagt, die Innenschau....