3 Der Mensch wird die leidenschaftlichen Erinnerungen wohl nicht von sich weisen können, ohne der Begierde und dem Zorn seine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Erstere muss er durch Fasten,
Wachen und Schlafen auf dem bloßen Erdboden völlig aufgerieben, letzteren durch Langmut, großmütiges Ertragen der Bosheit anderer, Aufgeben des alten Grolls und durch Spenden von Almosen ganz
besänftigt haben. Denn aus diesen beiden Leidenschaften entstehen beinahe alle dämonischen Gedanken, welche den Geist befallen zu seinem Untergang und Verderben. Es ist aber unmöglich, dieser
Leidenschaften Herr zu werden, hat man nicht vollständig Speise, Reichtum und Ehre, ja sogar auch seinen eigenen Leib verachtet - derentwegen, die oftmals darauf aus sind, ihn mit Ruten zu
schlagen.
Es ist also dringend notwendig, jene nachzuahmen, die sich in Seenot befinden und die Schiffseinrichtung über Bord werfen um der Stärke der Winde und der sich auftürmenden Wogen willen. Wir
müssen hierbei jedoch sorgfältig darauf achten, dass wir nicht die Einrichtung zwar über Bord werfen, es aber tun, um von den Menschen gesehen zu werden. Denn dann haben wir unseren Lohn bereits
empfangen. Und es wird ein noch schlimmerer Schiffbruch als der erste auf uns warten, da der Wind des Dämons der eitlen Ehrsucht wider uns zu wehen begann. Darum erzog auch unser Herr im
Evangelium unseren Steuermann, den Geist, und sprach: "Hütet euch, euer Almosen vor den Menschen zu spenden, um von ihnen gesehen zu werden, sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel."
Und wiederum: „Wenn ihr betet, seid nicht wie die Heuchler! Sie beten gern in den Synagogen und auf den Straßen, um von den Menschen gesehen zu werden. Amen, ich sage euch, sie haben ihren Lohn
bereits empfangen. Und wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler, denn sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute sehen, dass sie fasten. Amen, ich sage euch,
sie haben ihren Lohn bereits empfangen."
Der Arzt der Seelen muss hierbei vielmehr darauf achten, wie er mit Hilfe des Almosens den Zorn heilen, mit Hilfe des Gebetes den Geist reinigen und ferner mit Hilfe des Fastens die Begierde
vollständig aufreiben kann. Daraus entsteht der neue Adam, der nach dem Bild dessen erneuert wird, der ihn erschaffen hat. In ihm gibt es aufgrund der Leidenschaftslosigkeit nicht Mann und Frau
noch - und zwar aufgrund des einen Glaubens - Griechen und Juden, Beschneidung und Vorhaut, Barbaren und Skythen, Sklaven und Freie, sondern Christus ist alles und in allen.
(Evagrios Pontikos - 23 Kapitel über die Unterscheidung der Leidenschaften und Gedanken 3)
Kommentar schreiben