Innere Schau

Bei der inneren Schau gibt es oft eine Art Kampf zwischen Wissen und Nichtwissen. Das Licht der Wahrheit ist manchmal noch durch den Nebel des Irrtums verdunkelt, so wie ein Feuer, das Mühe hat, am grünen Holz sich zu entzünden, aber wenn ein mächtiger Windstoß ihm zu Hilfe kommt, dann flammt es auf und beginnt inmitten der aufwirbelnden schwarzen Rauchschwaden weithin zu leuchten. Dann breitet sich der Feuerherd aus, denn die Feuchtigkeit des Holzes wird aufgesaugt, und so verschwinden auch die dunklen Rauchwirbel, die Flamme wird immer heller, verbreitet sich siegreich und strahlend über das ganze Holz. Aber wenn erst alles Brennbare selbst zu Feuer geworden ist, dann hört auch alles Knacken und Funkensprühen auf, und was zuerst fressende Flamme war, wird zu einer stillen Glut, weil es nichts mehr finden kann, das von ihm verschieden oder ihm fremd wäre, nichts, was ihm noch widersteht. Darum sieht man zuerst Flammen und Rauch, dann Flamme ohne Rauch und zuletzt Glut ohne Flamme und ohne Rauch.


So ist auch unser Herz. Als Fleisch verhält es sich wie das grüne Holz, voller Feuchtigkeit, d. h. voller Begierden. Wenn es von irgendwelchen Funken der Gottesfurcht oder Gottesliebe getroffen wird, dann erhebt sich zuerst Rauch der verwundeten bösen Lust, und die verwundeten Leidenschaften bäumen sich auf. Dann aber stärkt sich die Seele, die Flamme der Gottesliebe brennt immer heißer und leuchtet immer stärker, der Rauch der Leidenschaften verflüchtigt sich und so kann sich der gereinigte Geist endlich hoch hinauf bis zur Betrachtung der Wahrheit erheben. Zuletzt wenn das Herz ganz von der Wahrheit durch diese fortgesetzte Schau durchglüht worden ist und mit all seiner inneren Willenskraft die Quelle selbst der höchsten Wahrheiten erreicht hat, dann verwandelt es sich in Glut, in das Feuer der echten Gottesliebe, und kann überhaupt nicht mehr durch Leidenschaften verwirrt, nicht mehr durch Begierden beunruhigt, nicht durch Schmerzen mehr bewegt werden. Jetzt endlich hat das Herz Ruhe und Frieden gefunden.

(Hugo von St. Viktor, aus der Homilie zum Ecclesiastes)

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