Kiefernzapfen

In der Schargoroder Umgebung gab es einen Kartenspieler, der wegen seiner Spielsucht viele Schulden angehäuft hatte. Seine geschickteren Spielgesellen verlangten von ihm bald mit ziemlichem Nachdruck, den Rückstand zu begleichen. In die Enge getrieben kam ihm nichts anderes in den Sinn, als nachts in das Bethaus der Schargoroder Gemeinde einzubrechen.

"Eine goldene Menora wird mir schon aus meiner Not heraushelfen!" so dachte er bei sich.

Der Ganove hatte eine mondlose Nacht abgewartet und sich in das kleine Häuschen eingeschlichen. Seine Enttäuschung war aber sehr groß gewesen, als er nichts anderes außer nüchternen Bänken und Tischen vorgefunden hatte. Und... einen Kiefernzapfen auf des Rabbis Lesepult!

Nun wollte der Mann nicht so schnell aufgeben. "Vielleicht nimmt der Rabbi jeden Abend die kostbaren Dinge zu sich nach Hause und morgens stehen sie wieder im Bethaus? Ich komme morgen nochmal, und wenn keiner etwas merkt...", so überlegte er.

Schon in der Früh zum ersten Gebet kam er leise herein. Der Augenblick war günstig, denn der Rabbi und seine Schüler waren in die Anrufung Gottes vertieft. Als aber der Kartenspieler wieder nur die nüchterne Einrichtung und den Kiefernzapfen sah, stürmte er wütend zu des Rabbis Pult, schmiss den Zapfen zu Boden und zertrat ihn auf der Stelle. Wärend er hinauslief, wollten die empörten Schüler ihn festhalten. Aber Rabbi Jakov ben Katz gab ihnen ein Zeichen und ließ den Mann ziehen.

Es vergingen viele Jahre. Der Spielsuchtgeplagte hatte mal Glück mal Pech. Irgendwann landete er für lange Zeit im Zuchthaus. Wieder draußen war er mittellos, mutterseelenallein und aller Illusionen ledig. Seine Seele litt Not und sein Herz war zerbrochen. Aber die Gnade war mit ihm, denn im Läuterungsfeuer fand er zu Gott. Mit seinem ganzen Herzen glaubte er an den Herrn und sein Vertrauen war groß.

An einem heißen Sommer brannten um Schargorod herum die Wälder. Eine breite Feuerwalze fraß sich durch die Tannen, Kiefern und Birken. Die Rauchwolke war gar von Weitem zu sehen. Der frühere Kartenspieler - der Geläuterte - fuhr alsbald nach Schargorod. Er war plötzlich voller Sorgen, dass Rabbi Jakov und seiner Gemeinde etwas zustoßen könnte. Zu seiner Erleichterung hatte das Feuer nicht auf die Häuser übergegriffen. Er ging direkt zum Bethaus und fand dort den Rabbi mit einigen jüngeren Schülern vor. Der Rabbi hielt in der Hand wieder einen verrußten, aufgespreizten... Kiefernzapfen! Er musste ihn wohl im vom Feuer verwüsteten Wald aufgelesen haben.

Als der Mann das sah, lief er auf Rabbi Jakov zu, fiel auf die Knie und bat ihn um Verzeihung für damals. Dann erzählte er von Glück und Pech, von Gefängnis und Einsamkeit, von verlorenen Illusionen und von seinem Herzen wie eine offene Wunde, und davon, wie Licht und Hitze der Läuterung in diese Wunde eindrangen, sie ganzheitlich heilten und ihm ein neues Leben schenkten.

Er rief nochmal zu Rabbi aufschauend: "Rabbi! Vergib mir meine Schuld!"

Rabbi Jakov aber fasste den Mann an die Schulter und erwiderte: "Mein Sohn, Du hast grade deine Schuldigkeit abgetan."

Dieser sagte: "Rabbi, ich verstehe nicht wie!"

Da antwortete der Schargoroder: "Als Du reinkamst, zeigte ich den Neulingen hier diesen Kiefernzapfen. Solch ein Zapfen ist manchmal so fest verschlossen und mit Harz verklebt, dass erst die Hitze eines Feuers ihn öffnen kann und so die Samen freigesetzt werden. Erst dann - aufgebrochen - erfüllt er seinen Sinn ganz und gar. Und neues Leben entsteht. Deswegen halte ich einen Kiefernzapfen für ein Symbol unseres Herzens. Warum? Das wollte ich auch erklären. Gut, dass Du das eben getan hast."

(Ruth Finder)

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Kommentare: 2
  • #1

    Ruth Gabriel (Freitag, 11 Dezember 2020 12:43)

    Ich wurde kürzlich um eine Erklärung des zerbrochenen Herzens gebeten. Gut, dass du das mit dieser Geschichte viel besser getan hast.^^

  • #2

    Linda (Samstag, 12 Dezember 2020 07:03)

    Da denkt man so lange, dass „zerbrochen“ negativ ist.... und ZACK wird etwas Positives daraus. Das fühlt sich auf einmal sehr gut an, wenn das Herz zerbrochen ist!!!
    Danke an die Ruths für prima Erklärungen!