Man hat Klemens' Apatheiabegriff oft kritisiert und auch mißverstanden. Fraglos hat er den Begriff und auch zu großen Teilen den Bedeutungsgehalt von apatheia der stoischen Morallehre entnommen. Wenn man aber unter dem 'apathetischen Gnostiker' des Klemens einen Menschen ohne Gefühle versteht, dem die Welt und seine Mitmenschen ganz gleichgültig sind, schreibt man nur ein geläufiges Mißverständnis fort. Die stoische Moraltheorie hat zwischen den Gefühlen bzw. Trieben (orexeis) und den ungeordneten Leidenschaften (pathe) unterschieden. Die orexeis gehören notwendig zur leibgebundenen Existenzweise. Die ungeordneten Leidenschaften hingegen hindern die Seele daran, die Gefühle angemessen auf ein verantwortliches Handeln hin zu unterscheiden und auszumessen. „Leidenschaften waren nicht das, was wir Gefühle zu nennen geneigt sind, sondern vielmehr Komplexe, die den wahren Ausdruck von Gefühlen verhinderten ... Was Klemens im Ideal der apatheia vorschwebte, war ein Zustand endgültiger Klarheit des Ziels." Stoische apatheia war in erster Linie introspektiv; sie war dabei aber nicht unvereinbar mit dem Dienst an der menschlichen Gemeinschaft. Das zeigt etwa Klemens' älterer Zeitgenosse, der Philosophenkaiser Marc Aurel (121-180). Die Verchristlichung von apatheia verstärkte dieses Bewußtsein für Dienst, indem sie es christologisch ausrichtete. In der wichtigen Abhandlung der apatheia in Strom. VI9 gelten Christus und nach seiner Auferstehung die Apostel als Paradigma für den Gnostiker, der sich von der Liebe, die er für Gott leidet, nicht abbringen läßt und daher diese Liebe allen zuwendet, ohne sich von Leidenschaften verwirren zu lassen.
(McGinn, Die Mystik im Abendland)
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Ruth Gabriel (Dienstag, 01 Dezember 2020 19:19)
"...der sich von der Liebe, die er für Gott leidet, nicht abbringen läßt und daher diese Liebe allen zuwendet, ohne sich von Leidenschaften verwirren zu lassen."
Schön gesagt und sehr erstrebenswert...