Auf einem Rundgang durch seine Hauptstadt begegnete der König einem Bettler. „Wenn Du mir etwas geben willst“, sagte der Bettler zum König, „dann musst du dich an meine Bedingung halten“.
Der König war verblüfft. Er kannte viele Bettler, aber einer, der ihm Bedingungen stellen wollte, war ihm noch nie begegnet. Er schaute dem Mann in die Augen und spürte, dass er eine starke Ausstrahlung hatte. Merkwürdig! Tatsächlich war der Bettler gar kein Bettler, sondern ein Sufi-Mystiker, aber das ahnte der König nicht. „Was meinst du mit »Bedingung«?“ fragte der König.
Und der Bettler antwortete: „Ich nehme dein Almosen nur an, wenn es dir gelingt, meinen Bettelnapf bis zum Rand zu füllen.“
Der König glaubte, sich verhört zu haben. Der Bettelnapf war klein. Wollte sich der Bettler über ihn lustig machen? „Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich deinen kleinen dreckigen Bettelnapf nicht voll bekomme?!“ fragte der König scharf. „Ich bin doch kein Bettler, so wie du!“
Der Bettler lächelte und sagte: „Es ist besser, wenn ich dich warne, bevor du es versuchst und vielleicht Probleme kriegst.“
Was zum Teufel bildete sich dieser Bettler ein? Der König war neugierig und wütend geworden. Er befahl seinem Wesir: „Mach diesen Bettelnapf voll!“
Der Wesir eilte in den Palast, kehrte nach ein paar Minuten mit eine Tasche voller Edelsteinen zurück und warf sie in den Bettelnapf. Da passierte etwas Merkwürdiges: Die Edelsteine verschwanden in dem Bettelnapf so schnell, wie der Wesir sie hineinwarf!
„Weiter!“ rief der König. „Mehr!“ Er war außer sich vor Erstaunen und Wut. Er wollte um keinen Preis in der Welt nachgeben und dem Bettler einen Triumph gönnen. Der Wesir eilte in den Palast zurück und holte mehr Edelsteine. Aber auch sie verschwanden in dem Napf des Bettlers. Jetzt verlor der König seinen Verstand. Er war bereit, sein ganzes Königreich aufs Spiel zu setzen. Der Bettler durfte einfach nicht gewinnen!
„Mehr!“ schrie er und der Wesir eilte davon und holte mehr Edelsteine, immer mehr, bis die Schatzkammer leer war. So verschwand das ganze Vermögen des Königs und der Staatsschatz in dem kleinen Bettelnapf. Und am Ende war der König genau so arm wie der Bettler.
Jetzt endlich kam der König wieder zur Vernunft. Er verbeugte sich vor dem Bettler. „Ich habe dich beleidigt“, sagte er. „Bitte vergib mir. Und bevor du gehst, verrate mir bitte das Geheimnis deines Bettelnapfes. Wie kommt es, dass alle meine Schätze in ihm verschwunden sind?“
Der Bettler lachte und sagte: „Ich habe den Napf aus dem gleichen Stoff gemacht, aus dem das menschliche Ego gemacht ist. Das Ego kann nie genug kriegen. Was immer du ihm gibst - es ist nie erfüllt und zufrieden.“
(Sufi-Geschichte)
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Ruth Gabriel (Sonntag, 29 November 2020 08:29)
Gefunden auf www.dwds.de:
"Bettel m. ‘minderwertiges Zeug, Kram’. Die Rückbildung aus dem oben genannten Verb spätmhd. betel bezeichnet zunächst ‘das Betteln’, wird dann im Frühnhd. auf die erbettelten Sachen übertragen und steht seit dem 17. Jh. für ‘geringfügiges Zeug’. "
Die Bezeichnung der permanenten Wünsche des Ego als geringfügiges und minderwertiges Zeug scheint mir treffend. Dies bezieht sich auch auf das Ego, das dem anderen Ego dieses Zeug immer wieder liefert. So lange, bis der Irrum erkannt wird.
Ruth Gabriel (Sonntag, 29 November 2020 08:38)
Die anfängliche Reaktion des Königs ist klassisch und zeigt deutlich den Widerstand des Ego und das fehlende Erkennen, das dem Anderen unlautere Motivation unterjubelt.
K (Sonntag, 29 November 2020 10:32)
Die Aspekte des Egos, wie Macht haben wollen, Recht haben wollen, verbissenes Festhalten, Uneinsichtigkeit bis zur Selbstzerstörung, sind gut in der Geschichte dargestellt.
Das Ego ist nicht in der Lage, den weisen Mystiker mit seinen wohlmeinenden Absichten zu erkennen. Erst als das Ego des Königs nicht mehr vorhanden war (alle Edelsteine waren weg), war er in der Lage, den Mystiker zu erkennen und demütig und wertschätzend zu sein.