Nichts-Nicht II

Das Schweigen

In diesem Sinne nur ist es zu verstehen, wenn der heilige Bartholomäus behauptet, das Gotteswissen habe zugleich die Fülle und die Kürze, und das Evangelium sei zwar allumfassend, aber es habe sich darum nicht weniger auf einen einzigen, allerengsten Punkt konzentriert. Das scheint mir wunderbar treffend die Transzendenz des Schöpfers auszudrücken, Seinen Standort jenseits von jeder Grenze. Denn wenn auch der allumfassende und allbewirkende Urgrund nur mit sehr vielen Worten umschrieben werden kann, so schließt Er doch jede Unterscheidung von Sich aus, ist weder vernunftmässig zu fassen noch überhaupt verstehbar, enthält alle Wesen und löst sie wieder auf, schafft alle Eigenschaften und sprengt alle Eigenschaften, erfüllt sie alle, ohne je Sich in ihnen zu erfüllen. Eines von Allem muß überschritten haben, wer in den Urgrund blicken will: das Tor der Grenze von heilig oder verrucht, die Täler von Eingebung, Trieb oder Läuterung, und die höchsten Gipfel der Heiligkeit muß er unter sich gelassen haben, weit hinaus über alles, was nur Schöpfung und Licht ist und göttliche Klarheit und zeugendes Wort und Glanz und Grenzen und Gründe des Himmels.

Dann erst kann er an die Schwelle Dessen gelangen, der nach den Worten der Schrift im Dunkel des Ungeschaffenen wohnt und alles Sein übersteigt, weil Er selbst nur dadurch Sein Existieren kündet, daß Er alles Seiende zum Sein erhebt.

Nicht ohne Grund ergeht an Moses den Gottgeliebten zuerst der Auftrag, sich zu reinigen, dann weit weg zu gehen von dem, was nicht gleich rein ist: und nach der völligen Reinigung hört er die vielfachen Klänge der Posaunen mit unbegreiflichen Untertönen ängstigender Harmonien; er sieht viele Lichter, deren rätselhaft vielgestaltige Leuchtstrahlen blendenden Glanz auf ihn werfen; schon sehr weit von der Schar gewöhnlicher Menschen, nur mit einigen sorgsam ausgewählten Priestern, nähert er sich endlich dem Gipfel, von dem es zum Göttlichen aufwärts steigt. Aber auch oben kommt er noch nicht näher an Gott: Ihn sieht er nicht - denn Gott ist nicht sichtbar - aber er sieht doch den Ort, wo Gott zu wohnen scheint. Dadurch soll, glaube ich, angedeutet sein, daß in der Ordnung der sichtbaren Dinge und einsichtbaren Gedanken auch das Göttlichste und Höchste immer nur an unseren eigenen Vermutungen haftet, den willkürlichen Hypothesen über die Anwendbarkeit der Attribute, die dem Einen in Wahrheit zukämen. Doch dieses Eine ist jenseits des Weltalls. Wie könnten unsere Vermutungen über die Ursachen Seiner dennoch spürbaren Allgegenwart in diesem Weltall je an Ihn rühren? Sie bleiben stets innerhalb Seiner Schöpfung, der Er dennoch so fern ist, daß Er allen Gipfeln des Schaubaren, Denkbaren, Fühlbaren - und auch allen Gipfeln der heiligsten Heiligkeit unerreichbar bleibt.

Hierauf erst, da er solches zu ahnen beginnt, setzt Moses seinen Weg fort, um die Welt weit hinter sich zu lassen, in der man noch sehen und gesehen werden kann: jetzt erst dringt er in das wirkliche mystische Dunkel des höchsten unerkennbaren Lichtes. Dort endlich bringt er alles auf irdische Gegensätze gerichtetes Wissen zum Schweigen und entgeht so erst gänzlich dem Trug des Faßbaren und Schaubaren. Jetzt erst gehört er gar nicht mehr sich, auch nicht mehr einem anderen, Nahen oder Fernen, sondern nur noch ganz Dem, der über allem ist. Jetzt erst ist das Wahrhafte in ihm beim Schöpfer, der auch ihm unkenntlich bleibt - aber er hat ja auf alles Wissen verzichtet, und dank diesem Verzicht, dank diesem Nichtwissen, tritt er ein in jene Erkenntnis, die alles Wißbare sprengt.

 

(Dionysios Pseudo-Areopagita, "Migne")

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Kommentare: 2
  • #1

    Linda (Montag, 09 November 2020 07:18)

    Hu, da haben wir wohl noch einen weiten Weg vor uns....

  • #2

    C. (Mittwoch, 11 November 2020 10:04)

    Ein weiter Weg, der in der Einsicht gipfelt, dass der liebe Gott die ganze Zeit mit seiner Nasenspitze an unserer auf uns gewartet hat. ^^