Man denke sich eine große Stadt: sie nimmt die Menschen auf, welche durch verschiedene Tore in sie eintreten, nicht alle aber strömen an einen Ort zusammen; die einen gehen auf den Markt, die
anderen in die Wohnungen, noch andere in die Kirchen, auf die Straßen, auf die Gassen, in die Theater, wohin ein jeder will. Ähnlich verhält es sich auch mit der Stadt der Seele in unserem
Innern: ihre Inhalte strömen ihr durch verschiedene Tore zu, die Sinne; jedes aber, was hineinkommt, prüft und beurteilt der Verstand und weist ihm seinen geeigneten Platz an. Oft erlangen wir
durch verschiedene Sinne nur eine Erkenntnis, indem dieselbe Sache sich auf die verschiedenen Sinne gleichsam verteilt; ungekehrt kommt es auch vor, daß wir mit dem nämlichen Sinne Vieles und
Verschiedenartiges wahrnehmen, welches seiner Natur nach nicht zusammengehört.
»Wer erkennt den Geist des Herrn?« sagt der Apostel; ich aber füge bei: Wer erkennt seinen eigenen Geist? Diejenigen, welche meinen, sie könnten Gottes Wesen begreifen, mögen nur erst sagen,
ob sie sich selbst begriffen haben? Ob sie das Wesen ihres eigenen Geistes erkannt zu haben meinen? jedes Bild ist erst dann ein vollkommen wahres Bild, wenn ihm nichts von dem fehlt, was wir am
Urbilde erkennen; in welcher Beziehung aber die Ähnlichkeit mit dem Urbilde fehlt, in der ist es kein vollkommenes Bild. Zu dem, was wir an Gott erkennen, gehört aber vor allem auch die
Unbegreiflichkeit Seines Wesens; also muß auch darin das Bild dem Urbilde notwendig ähnlich sein. Denn wenn das Wesen des Bildes von uns begriffen werden könnte, das Urbild uns aber unbegreiflich
bliebe, so würde dieser Unterschied die Mangelhaftigkeit des Bildes beweisen. Nun ist aber die Natur unseres Geistes, der nach dem Bilde des Schöpfers geschaffen ist, unbegreiflich, und darum ist
er dem höchsten Wesen genau ähnlich. Und eben durch diese seine Unbegreiflichkeit zeigt er uns, daß er dem unbegreiflichen göttlichem Wesen auf unbegreifliche Weise entspricht.
(Gregor von Nyssa, †394, aus "Über die Schöpfung des Menschen" aus Cap. 10 und 11: "Die Sinne und der Geist")
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