Moses verzichtet darauf, sich fälschlich für den Sohn der Königin ausgeben zu lassen. Er rächt den mißhandelten Hebräer. Er flieht in die Wüste, bis dorthin, wo sie von Treiben der Menschen nicht mehr berührt wird. Bis tief in seine Seele läßt er sich vom Frieden der ruhig weidenden Rinderherden durchdringen. Er erblickt das aufflammende Licht. Er erleichtert seinen Aufstieg zum Licht, indem er sich seiner Schuhe entledigt. Er erbittet Freiheit für seine Familie und für sein Volk. Er sieht seine Feinde in den Fluten untergehen. Er bleibt unter dem Schutz der Wolke. Er stillt den Durst aller Münder an einem Felsen. Er erntet Brot vom Himmel. Er breitet die Hand aus und der Feind weicht. Er hört die Posaunen. Er dringt bis in die Dunkelheit Gottes ein.
Jetzt erst tritt er in die allverborgenen Wohnungen des Unerschaffenen Allerheiligsten. Er erfährt hier die Geheimnisse des Hohepriestertums. Er zerbricht die Götzenbilder. Er bittet um Milde
für sein Volk. Er stellt die zerbrochenen Gesetzestafeln wieder her. Er strahlt vor Ruhm. Und zu solchen Höhen emporgelangt -flammt er noch auf vor Begier, ist unersättlich, verlangt noch mehr,
spürt noch stärker den brennenden Durst nach Dem, Der ihn doch schon bis zur Sättigung mit Seinen Gnaden überschüttet hat: und genau so, als ob er noch überhaupt nichts erhalten hätte, beschwört
er Gott, Sich ihm doch zu offenbaren, aber nicht nur so, wie Gott Sich eben einem Menschen offenbaren kann, sondern so, wie Er Selbst in Sich Selbst ist!
Dies zu empfinden, so scheint es mir, zeugt von einer Seele, die vor Liebe und Begier nach dem Wesen Selbst der Schönheit und Güte lichterloh brennt, einer Seele, welche durch die Hoffnung
unaufhörlich höhergetrieben wird, von dem, was sie schon gesehen hat, immer weiter zu dem, was darüber hinaus führt - einer Seele, die ewiglich mit dem, was sie unaufhörlich entdeckt, ihre
unersättliche Sehnsucht nach jenem nährt, Der ihr noch verborgen bleiben muß. Es folgt daraus, daß der lichterloh brennende Liebhaber der Schönheit immer wieder erhält, was ihm immer wieder nur
wie ein Bild Dessen erscheinen muß, den er ersehnt, und daß er sich immer neu an der Begier entzünden muß, das Gesicht des Urbildes aller Bilder sehen zu dürfen, und Es ganz in sich aufzunehmen.
Die dringlichste, verwegenste Bitte der Seele, die an den Berg der Sehnsucht anbrandet, wird immer sein, die Schönheit nicht durch ihren Widerschein und durch Spiegel zu erblicken, sondern Sie
Selbst zu schauen: von Angesicht zu Angesicht.
Und die göttliche Stimme gewährt, was Moses erbeten hat, gerade dadurch, was Sie ihm versagt. Sie deutet ihm in wenigen Worten den ungeheuersten Abgrund von allem Denkbaren an: ja! Die
unendliche Freigibigkeit des Unendlichen Gottes schenkt ihm tatsächlich die Erfüllung seiner Sehnsucht - und doch, Sie stillt diese Sehnsucht nicht, denn im gleichen Augenblick gewährt sie ihm
weder Ruhe noch Sättigung.
Gott hätte sich gewiß nicht seinem treuen Diener gezeigt, wenn dieser Anblick derart hätte sein können, daß dadurch die Sehnsucht des Sehenden gestillt worden wäre. Doch darin kann ja die
wahre Schau der Gottheit niemals bestehen. Das Wesen dieser Schau offenbart sich gerade dadurch, daß niemals aufhören kann, sich nach Gott zu sehnen, wer je die Augen zu Gott erhebt. Darum
spricht Gott zu Moses so: »Du wirst mein Gesicht nicht sehen können, denn kein lebender Mensch wird je mein Gesicht sehen, ohne sofort zu sterben«. Die Schrift berichtet uns dies, meint aber
damit nicht etwa, eine solche Schau den Tod derer bedeuten könnte, die einer derartigen Schau gewürdigt werden. Wie sollte denn das Angesicht des Lebens Selbst je Ursache des Todes werden, für
jene, die sich dem Leben nähern? Das göttliche Wesen ist aber lebenspendend durch Seine Wesenheit Selbst - und andererseits gehört es zum besonderen Charakter der göttlichen Natur, stets oberhalb
jeder Bestimmbarkeit zu bleiben: wer also jemals denkt, daß Gott etwas Bestimmbares oder gar Bestimmtes wäre, der geht gerade daran vorbei, was wesentlich Leben ist, um statt dessen nach dem zu
greifen, was der tätige Geist des Menschen zwar für das Sein hält, aber was eben nicht das Sein ist, nicht das Leben Selbst ist.
Denn das wahre Leben, daß ist nur Er, Der es von Sich aus ist. Dieses Wesen aber bleibt der Erkenntnis unzugänglich. Wenn also die Natur selbst des Belebenden alle Erkennbarkeit übersteigt,
dann kann das, was der Geist ergreift, niemals Leben sein. Und was nicht Leben ist, das ist nicht geeignet, Leben mitzuteilen.
Was Moses gewünscht hat, das erfüllt sich also vollkommen an ihm, gerade dadurch, daß seine Sehnsucht ewig ungestillt bleibt.
(Gregor von Nyssa, †394, aus dem "Leben Mosis")
Kommentar schreiben
Ruth Finder (Dienstag, 27 Oktober 2020 19:35)
Ich stimme der Auslegung zu und lese daraus:
Gott ist Leben: Das EWIGE Leben, das nicht aufzuhalten ist, nicht einzufangen ist, keinen fertigen Zustand kennt und niemals aufhört. Wer das nicht einsieht, geht sozusagen, am Sinn des Ganzen vorbei, lebt nicht wirklich ("...wer also jemals denkt, daß Gott etwas Bestimmbares oder gar Bestimmtes wäre, der geht gerade daran vorbei, was wesentlich Leben ist...") So gesehen, hat Gott dem Mose in der Tat seinen Wunsch erfüllt "...gerade dadurch, daß seine Sehnsucht EWIG ungestillt bleibt", und dass seine Sehnsucht "weder Ruhe noch Sättigung" findet - wie das Leben selbst. Denn so offenbart ER sich ewig aufs Neue einem ewigen Wesen (dem Menschen).