Das schöpferische Dunkel

Viele wagen es und beginnen den unendlichen Aufstieg zu Gott, nur ausgestattet mit Kenntnissen, welche ihnen ihre Sinne vermitteln, obwohl sie es noch sehr nötig hätten, sich selbst vorher von diesen Sinnen zu reinigen und sich von den Lasten begangener Taten zu befreien. Denn ihr Leben ist noch verunreinigt wie ein abgetragenes Gewand, das niemals gesäubert wurde und daher vor Flecken strotzt. Was Wunder, wenn sie durch ihr eigenes unzulängliches Denken gesteinigt werden? Oder sind etwa häretische Ansichten nicht wie Steine, die dahergeflogen kommen, weil sie gegen die eigene Phantasie geschleudert wurden?


Was bedeutet das Eindringen Mosis in die Dunkelheit und die Vision von Gott, die ihm durch die Dunkelheit vermittelt wird? Ist diese Stelle der Schrift nicht irgendwie im Widerspruch mit der Gottesschau des Eingangs?

Denn zuerst erschien ihm Gott in einem Übermaß von Licht - und jetzt soll es die Dunkelheit sein, in der ihm Gott Seine Gegenwart offenbart! Trotzdem dürfen wir nicht glauben, daß hier ein Widerspruch in der klaren notwendigen Abfolge der geistigen Wirklichkeit aufzudecken wäre... Diese Schriftstelle lehrt uns, daß die religiöse Erkenntnis zuerst als Licht aufleuchtet, wenn sie zu entstehen beginnt. Und tatsächlich, das Licht verjagt alle Frevel, die nichts weiter sind als Finsternis, und die Finsternisse verflüchtigen sich durch die jubelnde Gegenwart des Lichtes. Je weiter aber der Geist in seinem unendlichen Streben nach oben voranschreitet und durch eine immer größere und immer vollkommenere Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit dahin gelangt, zu begreifen, was überhaupt die Kenntnis der Wirklichkeit sein kann - und je mehr er zu echter Schau vordringt -, umso mehr und umso deutlicher sieht er, daß das Wesen der Gottheit unfaßbar und unsichtbar sein muß. Sobald er die gröbsten Irrtümer überwunden und jeden Schein durchschaut hat - nicht nur das Scheinbare, das man durch die Sinne begreifen kann, sondern auch jenes andere Scheinbare, daß die menschliche Vernunft zu erschließen glaubt -, umso weiter dringt er ins Innerere vor und umso eher kann er, in einer unendlichen Anstrengung des Begreifens, bis zum Unsichtbaren und Unkennbaren weiter schreiten: und hier sieht er Gott. Denn in Wahrheit, die echte Erkenntnis dessen, der wirklich sucht - und seine wirkliche Schau - kann ja nur darin bestehen, zu sehen, daß Gott unsichtbar ist. Ohne Zweifel: Der, Den er sucht, übersteigt jede Erkenntnis, jede Möglichkeit des Innwerdens, Er ist von allen Seiten von der geschaffenen Welt durch Seine Unfaßbarkeit geschieden, wie durch das undurchdringlichste Dunkel. Darum sagt auch Johannes, dieser Mystiker, der bis in die größte Dunkelheit des höchsten Lichtes vorgedrungen ist: nie hat jemand Gott sehen können. Durch eine so radikale Verneinung beschreibt er das Wesen der Gottheit und sagt aus, daß ihre Kenntnis unzugänglich ist, und zwar nicht nur den Menschen, sondern auch jeder geistigen Wesenheit überhaupt (sogar den Engeln, wie auch Chrisostomos in seinem Traktat über die Unverstehbarkeit Gottes ausführt).

(Gregor von Nyssa, †394, aus dem "Leben Mosis")

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Kommentare: 1
  • #1

    Ruth Finder (Sonntag, 25 Oktober 2020 19:34)

    Ein erstaunlicher Text! Das Alter der Aussage (und es gibt zahlreiche andere ältere Zeugnisse des erkennenden Geistes) stimmt mich ob der Kontinuität der Erkenntnis heiter. Und eine wunderbare Sprache, die die ganze erlösende Dramatik oder dramatische Erlösung auf der Suche, auf dem Wege zu einem innersten Anliegen, zu Inspiration erhebt.
    Anliegen, Inspiration?! Wie das - könnte man fragen - wenn "nie jemand Gott hat sehen können", wenn das Ziel unerreichbar scheint. Als Antwort sehe ich den heutigen Blogtext "Unbegreifbar".

    Dazu auch:

    Rabbi Nachman von Brazlaw, der Urenkel von Baal-schem-tow, sagte zu seinen Schülern: "Egal wie hoch man kommt, es gibt immer eine weitere Stufe. Deshalb wissen wir nie irgend etwas und erreichen doch nicht das wahre Ziel. Dies ist eine sehr tiefe und geheimnisvolle Vorstellung."