Liebesgesänge an Gott

Mich liebt Er, der nicht in dieser Welt ist. Und inmitten meiner Zelle sehe ich Ihn, der außer der Welt ist. Auf meinem Bette sitze ich, der geboren und doch ewig ist, ich sehe Ihn, und rede mit Ihm und wage zu sagen: Ich liebe! denn Er liebt mich. Ich nähre mich von der Betrachtung, ich kleide mich darein; Ihm vereint, übersteige ich die Himmel. Und daß dies wahr und gewiß ist, weiß ich. Wo aber dann dieser Leib ist, erkenne ich nicht. Ich weiß, daß hinabsteigt, der unbewegt ist. Ich weiß, daß von mir geschaut wird, der von Natur unschaubar ist. Ich weiß, daß Er, der aller Kreatur weit entrückt ist, mich in Sich aufnimmt und mich in Seinen Armen verbirgt, und ich finde mich außer der ganzen Welt. Hinwieder schaue ich Sterblicher, und in der Welt ein Geringer, den ganzen Schöpfer der Welt in mir: und dieweil ich im Leben bin, umfange ich in mir das ganze blühende Leben und weiß, daß ich nicht sterben werde. Als Er mich mit himmlischer Freude erfüllt hatte, entflog Er und nahm meinen Geist, meinen Sinn und aller irdischen Dinge Begier mit sich. Und Ihm folgend verlangte mein Geist den geschauten Glanz zu umfassen, aber er fand ihn nicht mehr, als Kreatur, und es gelang ihm nicht, aus den Kreaturen zu gehen, um jenen unerschaffenen und unerfaßten Glanz zu umfangen. Dennoch umzog er alles und strebte, Jenen zu schauen, durchforschte die Luft, umwandelte den Himmel, überschritt die Abgründe, und durchspähte, wie ihm schien, die Enden der Welt. Aber in alledem fand er nichts, denn geschaffen war alles. Und ich klagte und trauerte und brannte. Und als ich Ihn noch mühevoll suchte, erfuhr ich jählings, daß Er in mir selber war, und in der Mitte meines Herzens erschien Er wie das Licht einer kreisrunden Sonne. Als Er so sich offenbarte und ich Ihn erkannte und empfing, trieb Er den Wirbel der Dämonen in die Flucht, stieß die feige Scheu zurück, gab die Stärke ein, entblößte mein Gemüt vom irdischen Sinn und umkleidete mich mit den Sinnen des Geistes. Von den Dingen, die gesehen werden, schied Er mich ab, und mit denen, die nicht gesehen werden, verband Er mich. Er gewährte mir, das Unerschaffene zu schauen, und mich dessen zu erfreuen, daß ich vom Erschaffenen, vom Sichtbaren, vom Schnellvergänglichen gesondert war - vereinigt dem Unerschaffenen, dem Unsterblichen, das des Anfangs bar ist und von Keinem erblickt werden kann.

(Symeon, der neue Theologe, 949-1022, aus den Liebengesängen an Gott, in Walter Tritsch - Christliche Geisteswelt II)

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Kommentare: 1
  • #1

    Diana (Freitag, 23 Oktober 2020 09:21)

    Ganz schön schön!