Die christliche Mystik hat nicht die Ergebnisse von Philosophie oder Wissenschaft gebraucht um Gottes Absicht in den Ereignissen dieser Welt zu suchen, zu deuten, und vielleicht zu erkennen:
dem Mystiker offenbart sich die Gegenwart Gottes im Herzen des Menschen.
Jeder christliche Mystiker hat - bewußt oder unbewußt - seinen Weg über einen schmalen Grat zwischen zwei Abgründen genommen. Dem Streben der Menschen mochte er nicht allzuviel Gewicht
beilegen, und doch durfte er dieses Streben nie ganz vernachlässigen. Denn wenn auch nur ein Mensch sich selbst aus eigener Kraft zu retten vermöchte, aus eigenem Verdienst selig zu werden
vermöchte - was bedeutete dann noch die Tat des Erlösers? Andererseits, wenn Gnade und geschenkte Gottesgegenwart ganz allein alles wäre, vorherbestimmt wäre, und jegliches Tun des Menschen
vergeblich und eitel - wo bliebe dann die uns von Gott verliehene Freiheit des Handelns und der Sinn unserer Verantwortung?
Die in diesem Buch ausgewählten Stellen aus den Schriften der christlichen Mystiker seit Gregor von Nyssa und dem Pseudo-Areopagiten spiegeln die Geschichte solch unablässigen Kampfes um den
echten Glauben. Auch für die Mystiker der Armut im Geiste, auch für die Visionäre des Eintritts Unseres Herrn in ihr eigenes Herz ist dies das eigentliche Thema aller mystischen Deutungen der
Gegenwart Gottes, bis zu denen, die auch in heutiger Zeit diese Gegenwart erspürt haben.
Echte Mystiker klügeln nicht und predigen keine Weisheiten. Sie bekunden nur die Gegenwart Gottes. Große Heilige und echte Mystiker sind - bei aller Sicherheit ihres Kündens - nicht selten an
ihrer liebenden Scheu zu erkennen, denn sie fürchten den Absturz, sie haben Angst vor falschen Visionen. Deutlich hebt sich ihre begnadete Art von den unbekümmerten Behauptungen derer ab, die
hemmungslos nicht Gott, sondern sich selbst in ihre Visionen von Gegenwart und Zukunft hineindeuten. Gegenwart Gottes (das soll dieses Buch deutlich machen) befreit zwar von solcher Furcht und
erlöst von jedem Zweifel - aber der echte Mystiker hat jene große Scheu des Liebenden in seinem Herzen immer empfunden, ehe er von seinen Gesichten Kunde zu geben wagt.
(Umschlagstext von: Walter Tritsch - Christliche Geisteswelt II, Die Welt der Mystik, 1957)
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