Es ziemt sich für uns Hesychasten, klug und nüchtern die guten und die schlechten Taten voneinander zu scheiden und zu trennen. Ebenso müssen wir unterscheiden, um welche Tugend wir besorgt
sein müssen, wenn die Brüder und Väter anwesend sind, und welche Tugenden wir üben müssen, wenn wir allein sind; wir müssen unterscheiden, welche die erste und welche die zweite und dritte Tugend
ist; welche Leidenschaft die Seele und welche den Leib betrifft; welche Tugend die Seele und welche den Leib betrifft; aufgrund welcher Tugend der Hochmut den Geist ohrfeigt und aufgrund welcher
Tugend sich die eitle Ehrsucht einstellt; aufgrund welcher Tugend sich der Zorn nähert und aufgrund welcher die Völlerei sich einfindet. Wir müssen ja alle Gedankengebilde und jedes hohe Bollwerk
niederreißen, welches sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt.
Die erste Tugend ist die Sorglosigkeit, d. h. der Tod jedem Menschen und allen Dingen gegenüber. Aus ihr wird alsdann die Sehnsucht nach Gott geboren. Diese aber gebiert den naturgemäßen
Zorn, welcher sich jeder Machenschaft des Bösen entgegenstellt. Dann findet die Furcht Gottes Weide im Menschen, und durch die Furcht wird die Liebe offenbar.
Wir müssen den Angriff des Denkens zur Zeit des Gebetes durch frommen Widerspruch von unserem Herzen zurückschlagen, damit wir nicht etwa als solche erfunden werden, die mit den Lippen zwar
mit Gott sprechen, im Herzen aber Ungehöriges erwägen. Denn Gott nimmt von einem Hesychasten kein schmutziges Gebet an, das ihn verachtet. Stets beschwört uns ja die Schrift, die Sinne der Seele
zu überwachen.
Wenn sich nämlich der Wille des Mönchs dem Gesetz Gottes unterworfen hat und der Geist das ihm Unterstehende dem Gesetz Gottes gemäß lenkt - ich meine damit alle Regungen der Seele, vor allem
aber den Zorn und die Begierde; denn diese sind der Vernunft untertan -, dann haben wir die Tugend verwirklicht und die Gerechtigkeit erfüllt; die Begierde haben wir auf Gott und seine
Willensentscheide gerichtet, den Zorn aber gegen den Teufel und die Sünde.
Was wird also von uns hier verlangt? Die verborgene Betrachtung.
Wenn eine Unsauberkeit in dein Herz gesät wird, während du in deiner Zelle sitzt, dann beachte folgende Weisung: Stell dich der Schlechtigkeit entgegen, damit sie nicht etwa über dich
herrsche; beeile dich, daran zu denken, daß Gott auf dich achtgibt und daß das, was du in deinem Herzen überlegst, vor seinem Angesicht offenbar ist.
Sprich also zu deiner Seele: "Wenn du dich schon vor solchen fürchtest, die wie du Sünder sind, damit sie deine Sünden nicht sehen, wieviel mehr mußt du dann Gott fürchten, der das All
überblickt!" Und aus diesem Rat heraus wird deiner Seele die Furcht Gottes offenbart; und wenn du mit ihr im Bunde bleibst, bleibst du unbeweglich gegenüber den Leidenschaften, wie geschrieben
steht: "Die auf den Herrn vertrauen, sind wie der Zionsberg; auf ewig wird nicht wanken, wer in Jerusalem wohnt." Bei jeder Tätigkeit, die du unternimmst, wisse, daß Gott in all dein Denken
Einblick besitzt, und du wirst niemals sündigen. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit. Amen.
(Isaias der Anachoret - 27 Kapitel über die Bewachung des Geistes)
Kommentar schreiben
Clemens (Mittwoch, 19 August 2020 19:25)
Eine ganze Reihe von interessanten Blickwinkeln. Auch "das Richtige auf die falsche Weise tun" taucht auf:
"...aufgrund welcher Tugend sich der Zorn nähert und aufgrund welcher die Völlerei sich einfindet."
Linda (Donnerstag, 20 August 2020 08:16)
„Bei jeder Tätigkeit, die du unternimmst, wisse, daß Gott in all dein Denken Einblick besitzt, und du wirst niemals sündigen. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit. Amen."
Ich habe das erst so verstanden, als wenn da immer der gehobene Zeigefinger von Gott zu sehen ist und fand das gar nicht so gut. Dann wurde mir klar, dass, wenn man achtsam ist, Gott noch mehr an unserer Seite ist und uns unterstützt. Wie schön!!!
Ruth Gabriel (Donnerstag, 20 August 2020 08:50)
"Sprich also zu deiner Seele: "Wenn du dich schon vor solchen fürchtest, die wie du Sünder sind, damit sie deine Sünden nicht sehen, wieviel mehr mußt du dann Gott fürchten, der das All überblickt!" "
Da können wir uns die Frage stellen, womit wir tagtäglich mehr beschäftigt sind. Mit dem, wie wir vor Anderen dastehen wollen oder mit dem, wie wir vor Gott dastehen wollen...
Ruth Gabriel (Donnerstag, 20 August 2020 08:53)
Ergänzung zu #4:
Und uns flugs weiter an die Weg-Arbeit machen.^^
Ruth Finder (Donnerstag, 20 August 2020 10:48)
Vom Sehen und Geschehen
Es hatte sich so zugetragen, dass ein Schüler des Schargoroders sich im Bethaus rar machte. Eines Tages lud der Rebbe seinen Schützling zu einem Spaziergang ein und fragte diesen nach der Ursache für sein häufiges Fernbleiben. Der junge Mann hüllte sich in Schweigen. Sein Lehrer schwieg mit ihm mit.
Aber als die beiden die Grenze des Städchens verließen, da brach es aus dem Schüler heraus: "Rabbi, ich fürchte mich! Mein Lebtag schon fürchte ich mich vor dem Herrn!"
"Wie das?", fragte Jakov ben Katz.
Der Geplagte weiter: "Man sagt doch, dass der Herr alles sieht! Keiner kann seinem prüfenden Auge entkommen! Ist das so? Verstecken, verstecken möchte ich mich am liebsten vor ihm!"
Mittlerweile befanden sich die Zwei auf einem schmalen Pfad, der sich um einen hohen Hügel schlang. Und sie wussten, dass es irgendwo in weiter Ferne eine große Stadt namens B. gab.
Scheinbar zufällig fragte der Rabbi seinen Schüler: "Wie kommst du denn in die Stadt B.?"
Dieser staunte ob der Frage und antwortete: "Ich war noch nie dort, aber erst würde ich diesem Pfad folgen und dann würde ich schon sehen, welche Wege sich mir öffnen, und ich entschiede mich jeweils dort, welche ich nähme."
"Lob dem Herren! Denn er hat für alles gesorgt", pries der Rabbi gen Himmel blickend.
Der Schüler verstand nicht.
Da sagte der Rabbi auf einmal: "Komm mit!" Und schon kletterte er flink den Hügel hinauf.
Zuerst konnten die Männer sehen, dass der Pfad an einer Kreuzung mündete. Und als sie höher aufstiegen, sahen sie, dass der Weg nach vorne in einen Wald führte, dass der Weg nach rechts sich um einen großen Sumpf herum bog und, dass der linke Weg sich zu einem schmalen, aber brausenden Bach gesellte und sich in der Weite verlor. Und je höher der Rabbi und sein Schüler den Hügel erklommen, desto mehr sahen sie die ganze Umgebung mit immer neuen weiteren Wegen, die alle zu dieser Stadt B. führten.
An den Gipfel angelangt, verkündete der Rabbi: "Verstehst du jetzt? So wie wir jetzt alle Wege dort unten sehen, sieht Gott alle Möglichkeiten, welche wir im Leben haben - welche wir je haben werden! - die uns in sein Reich führen werden. Er hat alles schon geschehen lassen und wir müssen nur achtsam wählen. Das ist damit gemeint, dass der Herr alles sieht!"
Und so geschah es, wie es oft geschieht, wenn einem die große Last von der Seele fällt - mit seinem ganzen Gemüt kehrt man um. Man pendelt in die andere Richtung.
Der Schüler rief erleichtert aus: "Ich fürchte mich nicht mehr!" Trunken von seiner eigenen Kühnheit sprach er trotzig weiter: "Siehe! Ich kann dem Herren sogar ein Schnippchen schlagen. Gesetzt, ich gehe an der Abzweigung nach links. Dann folge ich aber nicht diesem Weg dem Bach entlang, sondern ich fälle einen Baum, werfe ihn über die schnellen Gewässer und bin im Nu auf der anderen Seite. Ich habe dann einen neuen Weg gefunden. Ich bin mir jetzt mein eigener Herr!"
Rabbi Jakov trat an den Schüler heran und sagte: "Ach, Söhnchen! Aber das ist doch auch unser Herr, der diesen Baum dahin gestellt hat! Und das ist er auch, der dir den Verstand und die Freiheit gab, dich so oder so zu entscheiden. Auch das hat er vorgesehen. Wir müssen lernen, aufzusteigen - uns Ihm aufzuschliessen, damit wir sehen und erblicken, was der Herr sieht und überblickt."
Und so rückte der Lehrer seinen Schüler sanft in die Mitte.
Clemens (Freitag, 21 August 2020 19:24)
"...aufgrund welcher Tugend sich die eitle Ehrsucht einstellt; aufgrund welcher Tugend sich der Zorn nähert und aufgrund welcher die Völlerei sich einfindet. Wir müssen ja alle Gedankengebilde und jedes hohe Bollwerk niederreißen, welches sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt."
Das wir wohl individuell unterschiedlich sein, aufgrund welcher Tugend sich beim einzelnen Zorn nähert oder sich Völlerei einfindet. Herangezogen werden dazu aber jeweils Gedankengebilde als Rechtfertigungen und hohe Bollwerke - also Verteidigungsanlagen für AP-Impulse auf hohem Niveau (verbal - nicht im Sein und Tun). All das gehört im Rahmen der Weg-Arbeit schrittweise erkannt und abgetan.