Ermattung?

Die erste Antwort der Seele auf die Anrede des Lichts ist Anbetung und Freude, tiefe Dankbarkeit und Gottesdienst, Hingabe und Horchen auf Gottes Stimme. Wir entziehen einen Teil unseres Wesens dem lärmenden Treiben der Welt und errichten darin ein Heiligtum der Anbetung und der Selbstaufgabe, wo wir ganz still sind und in Ihm ruhen, der uns in den innersten Quellen unseres Lebens gefunden hat. Und nach diesem überwältigenden Schauen, das uns immer von neuem geschenkt wird, sind wir fähig, diese Gemütsverfassung, die ihre Kraft aus dem inneren Heiligtum schöpft, in die Welt hinauszutragen, in ihre Unruhe, in ihr unstetes Treiben. Die Seele wächst über sich selbst hinaus und sieht auf den Menschen dunklere Schatten, aber auch lichtere Herrlichkeit, dort, wo Jesus sie berührt. Mächtig bewegt unsere dankbare Liebe zu Gott die Triebfedern unseres Willens und führt uns zu einer neuen, alles überwindenden Liebe zu den von der Zeit geblendeten Menschen und zu allen Geschöpfen. In diesem Kern der Schöpfung gehören alle Dinge uns, und wir sind Christi, und Christus ist Gottes. Wir sind Gottes Hörige, bereit zu rennen und nicht müde zu werden, zu wandeln und nicht matt zu werden.

Aber das Licht verblasst, der Wille ermattet, alles wird grau. Können wir das aufhalten? Nein, auch sollen wir es nicht versuchen, denn wir müssen lernen, uns Seinem Willen zu unterwerfen und weiterzugehen auf dem Weg, den Seine Gnade uns weist. Das ewige innere Licht stirbt nicht, wenn unser Schauen aufhört; es ist nicht abhängig von unserer flatternden, wechselnden Gemütsverfassung. Das religiöse Leben muss sich nicht mit der nach und nach sich verwischenden Erinnerung an eine einmalige Berührung durch Gott begnügen; es schöpft aus der immerwährend erneuerten Unmittelbarkeit des Erlebens. Lasst uns also zusammen nach dem Geheimnis des tiefer liegenden Heiligtums der Seele, nach der tieferen Frömmigkeit suchen, wo das innere Licht nie verblasst, sondern ewig leuchtet, wo die lebendigen Wasser immerfort sprudeln und die göttlichen Offenbarungen Tag um Tag, Stunde um Stunde alles verklären. Das helle momentane Aufleuchten des Ewigen kann zum gleichmäßig strahlenden Inneren Licht werden, wenn wir mit letztem Ernst uns Ihm hingeben und uns zu reiferen Stufen des religiösen Lebens führen lassen. Nur wenn das möglich ist, kann das Innere Licht zum Alltagslicht für den Marktplatz werden, verirrte Füße lenken und neue Kulturformen schaffen.

Um dahin zu gelangen, müssen wir uns gewissen Geistesübungen und Gewohnheiten unterwerfen. Wir müssen die Tiefen unseres Wesens immerwährend nach dem Inneren Lichte orientieren und uns im Innersten ständig in Demut beugen. Während wir im täglichen geschäftigen Leben nach außen wirken, muss die Nadel unseres Kompasses immer auf den Polarstern der Seele zeigen. So wird das innere Licht zum wahrsten Lenker des Lebens. Es zeigt uns neue ungeahnte Mängel in uns und in unseren Weggenossen; aber es zeigt uns auch neue, ungeahnte Möglichkeiten des Aufbaus, ein Leben in der Kraft und im guten Willen der Menschen. Aber Er, der in uns ist, führt uns noch tiefer in die Geheimnisse des Lebens hinein, zu einem so wunderbaren inneren Leben in Ihm, dass wir, wenn wir uns fest an Ihn halten, die Welt leuchten sehen im Glanz des Inneren Lichtes und fröhlich und unmittelbar aus diesem Innersten heraus den Zugang zu den Menschen finden. Gebt euch Ihm hin, der ein viel besserer Lehrer ist als all diese äußeren Worte, und ihr werdet den finden, von dem diese Worte nur ein blasses Abbild zu geben vermögen.

Solche Übungen in innerlicher Orientierung, im Horchen auf Gottes Stimme rate ich nicht bloß gewissen religiösen Gruppen und Orden, gewissen innerlich veranlagten Seelen oder Mönchen an. Solche Übungen bilden den Kern jedes religiösen Lebens. Ich bin überzeugt, dass sie das Geheimnis des inneren Lebens des galiläischen Meisters waren. Er erwartete, dass jeder, der Ihm nachfolgte, dieses Geheimnis neu in sich entdeckte. Es schafft eine wunderbare Gemeinschaft, die unsichtbare Kirche, ein Gruppenleben auf höherer Stufe, eine Gesellschaft, die sich auf gegenseitige Achtung gründet, eine Geschichte, die ihre Wurzeln in der Ewigkeit hat, Reich Gottes auf Erden.

 

(Thomas R. Kelly, Das innere Licht spüren S. 26-27)

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Kommentare: 1
  • #1

    Ruth Gabriel (Samstag, 15 August 2020 14:28)

    Was kann man zu diesem Text sagen, außer Ja, Ja und Ja!