In einer deutlich autobiographischen Passage aus Enn. V 8,II beschreibt Plotin eine Erfahrungsweise, die osziliert zwischen (1) einer diskursiven Vorbereitung auf die mystische Begegnung, wobei
noch eine Unterscheidung zwischen dem Schauenden und dem Geschauten aufrecht erhalten bleibt, und (2) der Einheit des mystischen Innewerdens, dem notwendig (3) eine neue, nun vervollkommnete
Diskursivität folgt.
(1) „Wenn aber einer von uns, der noch unfähig ist, sich selber zu sehen, von jenem Gott ergriffen das Schaunis zum Ansehen hervornimmt, so nimmt er sich selber hervor und erblickt ein
verschönertes Abbild des Gottes ..."
(2) „ ... läßt er aber dieses Bild, ob es auch schön ist, fahren und kommt zum Einssein mit ihm, ohne sich noch zu zerspalten, so ist er Eines und Alles zumal, vereint mit jenem Gotte,
welcher lautlos zugegen ist, und dann verweilt er bei ihm, soviel er vermag und will."
(3) „Wendet er sich dann wieder zur Zweiheit, so ist er, sofern er lauter bleibt, dem Gotte zunächst, und kann ihm somit wiederum auf jene Weise beiwohnen, wenn er sich wieder zu ihm
hinwendet."
Plotin hat subtil wie kein anderer antiker Autor die Psychologie der mystischen Zustände mit ihren komplexen Übergängen zwischen dem Bewußtsein der Zweiheit und dem der Einheit dargestellt
im.
Ein Abschnitt aus Enn. VI 9,9 ist noch persönlicher gefärbt: „Wer es aber geschaut hat, der weiß was ich sage, daß nämlich die Seele alsdann, indem sie herannaht und endlich anlangt und an
Ihm Teil erhält (metaschousa autou) ein neues Leben empfängt ... und sie keines Dinges mehr bedarf, daß es vielmehr gilt alles andere von sich abzutun und in ihm allein stille zu stehen, es zu
werden in reinem Alleinsein (touto genesthai), alles übrigen uns entschlagend was uns umkleidet. Daher wir denn trachten von hier wegzugelangen und murren über die Fesseln die uns an das Andere
binden, um endlich mit unserem ganzen Selbst Jenes zu umfassen und keinen Teil mehr in uns zu haben mit welchem wir nicht Gott berühren."
(nach McGinn, Die Mystik im Abendland)
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Bernard McGinn (Mittwoch, 22 Juli 2020 15:04)
Diese Stellen belegen, daß Plotin nicht nur die Erfahrung des Übergangs zwischen der Einheit des mystischen Bewußtseins und der Zweiheit des alltäglichen Denkens darstellen wollte. Er verfügt auch über einen zweifachen Begriff von Vereinigung. Dieser umfaßt einmal die Einung mit dem Nous bzw. Geist, zum anderen ein höheres Geeintwerden mit dem unerkennbaren Einen (to hen), das jenseits von Denken und Sein ist. Die verschiedenen Weisen von Einung, die Plotin in seinen mystischen Ausführungen darstellt, geben die Erfahrungsbasis für die Struktur der Wirklichkeit ab, die er ausgehend von der klassischen philosophischen Tradition entwickelte.
Plotins Fähigkeit, abseitige philosophische Analysen mit tiefer persönlicher Empfindung zu kombinieren, ist einzigartig - ihn zu lesen heißt, sich zu einer Entdeckungsreise in unbekannte Regionen auf der Suche nach verborgenen Schätzen einladen zu lassen: ein prickelndes und vielleicht gefährliches Unternehmen. Seine Lehre vom Einen etwa fußt auf der negativen Theologie seiner Vorläufer, ist aber ungleich reicher. Die beständige Verschränkung von Metaphysik und Mystik verlangt nach einer Skizze der plotinischen Metaphysik, bevor wir zu einer eingehenderen Erörterung seines Konzepts von mystischer Kontemplation und Einung übergehen können.
Plotin nahm drei transzendente Wirklichkeitsstufen bzw. Hypostasen jenseits des sinnenhaft gegebenen Universums an - das Eine, den Geist und die Seele. Genauer besehen ist die Einteilung noch komplexer. Die Seele wird in höhere und niedrigere Schichten unterteilt: in die höhere Weltseele (psyche) und die Natur (physis), die leibgebundene Seele. Man kann Vorstufen der plotinischen Hypostasen im griechischen Denken aufzeigen: Das Eine bzw. die Absolute Einheit ist eine Weiterentwicklung der parmenideisch-platonischen Tradition, der Geist (Eines-Vieles) eine Kombination von Aristotelismus und Mittelplatonismus, die Weltseele (Eines und Vieles) verdankt sich platonischen und stoischen Überlieferungen. Das bedeutet nun keineswegs Plotin einfach auf einen Kompilator zu reduzieren oder etwa die Einheitlichkeit seines Denkens zu problematisieren - eine Frage, die seinen ruhelos forschenden Geist wohl ohnehin nicht sehr bedrängt hat.
Man hat Plotins drei Hypostasen unterschiedlich interpretiert, meist als hierarchische Struktur, als Grundriß des ontologischen Stufenbaus der Wirklichkeit, wobei die niedrigeren Stufen aus den höheren in einem nichtzeitlichen Prozeß des Hervorgangs bzw. der Emanation (proodos) ausströmen und durch die Umkehr (epistrophe) zurückkehren. Viele Interpreten schlagen auch eine introspektive Lesart dieser hypostatischen Struktur vor und verstehen Plotins Denken als 'Metapsychologie', d. h. als Vorstellung der Wirklichkeit alles Seienden mittels der Analyse des Bewußtseins. "'Processio' und 'conversio' sind zeitliche Metaphern für den Moment, in dem die ursprüngliche Schau, in der das Selbst seiner inne wird - eine andauernde Schau -, diesem im Augenblick eines unvermittelten Kontakts als vor-geistig bewußt wird."
Beide Sichtweisen treffen zu und erhellen wichtige Aspekte des plotinischen Denkens. Sie runden sich aber nur durch die Aufnahme einer dritten, der dialektischen Zugangsweise. Man kann dafür von Plotins eigener Kritik an der Konzeption der im Emanationsmodell (vgl. Enn. VI 4-5; VI 8) implizierten Seinsstufen ausgehen und ebenso von seinen Versuchen, darzustellen - soweit möglich -, wie das Eine zugleich die Wirklichkeit alles Seienden ist und nicht ist und dabei bewußt und nicht bewußt ist. Plotin legt eine mystische Dialektik von Immanenz und Transzendenz vor, die die Seele zu ihrer endgültigen Befreiung führen soll. Freiheit verwirklicht sich durch das in der Aussage „Das Eine ist alles und doch kein einziges" (Enn. V 2, I) Angezielte.