Freiheit - Unfreiheit

18 Wer in Wahrheit sein Herz hingegeben hat, Gott in Frömmigkeit zu suchen, der kann keinesfalls die Vorstellung hegen, er habe Gott irgendeinmal gefallen. Denn sofern ihn das Gewissen mancher Dinge der Widernatur überführt, ist er der Freiheit unkundig. Sofern es nämlich jemanden gibt, der einen überführt, gibt es auch einen Ankläger; und solange es eine Anklage gibt, gibt es keine Freiheit.

Wenn du daher beim Gebet siehst, daß dich überhaupt nichts der Schlechtigkeit anklagt, bist du somit also frei und in die heilige Ruhe Gottes gemäß seinem Willen eingetreten. Wenn du siehst, daß die gute Frucht gekräftigt wurde und das Unkraut des Feindes sie nicht mehr erstickt, und daß die Feinde nicht von sich aus gewichen sind, weil sie etwa mit List dazu überredet worden wären, nicht mehr mit deinen Sinnen Krieg zu führen; wenn die Wolke das Zelt überschattet hat und dich die Sonne nicht bei Tag und der Mond nicht bei Nacht versengt hat; wenn sich in dir jedwede Bereitschaft findet, das Zelt dem Willen Gottes gemäß aufzustellen und zu bewachen, dann ist dir offenbar durch Gott der Sieg zuteil geworden. Und dann wird er fürderhin auch selbst das Zelt überschatten, weil es ihm gehört.

Solange aber Krieg herrscht, steht der Mensch unter Furcht und Zittern, heute entweder gesiegt zu haben oder besiegt worden zu sein, oder morgen besiegt zu werden oder zu siegen. Es schnürt ja der Kampf das Herz zusammen. Die Leidenschaftslosigkeit jedoch kennt keinen Angriff. Sie hat ja den Kampfpreis erhalten und macht sich keine Sorgen mehr über die Rolle der drei einst Entzweiten, denn sie sind mit Gottes Hilfe dazu gelangt, miteinander in Frieden zu leben. Diese drei sind Seele, Leib und Geist. Wenn also die drei durch das Wirken des Heiligen Geistes eins geworden sind, können sie sich nicht mehr trennen.

Glaube also nicht, du seist der Sünde gestorben, solange du von deinen Feinden Gewalt erfährst, sei es im wachen Zustand, sei es im Schlaf. Denn solange sich der geplagte Mensch im Stadion befindet, besitzt er keine Zuversicht.

 

(Philokalie Bd. 1, Isaias der Anachoret, 27 Kapitel)

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Kommentare: 1
  • #1

    Ruth Finder (Sonntag, 05 Juli 2020 12:04)

    Die Essenz des Spruches würde ich in zwei Sätzen zusammenfassen:

    "Die Leidenschaftslosigkeit jedoch kennt keinen Angriff."

    Und:

    "Denn solange sich der GEPLAGTE Mensch im Stadion befindet, besitzt er keine Zuversicht."

    Wobei die Essenz der Essenz (d.h. hier der "Aufhänger", der springede Punkt) für mich das großgeschriebene Wort wäre: Denn wir alle befinden uns im Stadion - die Geplagten UND die Gleichmütigen (Leidenschaftslosen) - es kommt auf die innere Haltung an.

    In meinen Gebeten bitte ich den Vater, dass er mir hilft, Ruhe, Geduld, Gelassenheit, Demut und GLEICHMUT in mir wachsen zu lassen. Und zwar in dieser aus meiner Sicht aufsteigenden Wertabfolge.

    Ich gebe hier vier Geschichten wieder, die die zahlreichen Facetten der Gleichmut beschreiben und die mich immer wieder aufs Neue inspirieren, wenn ich mich an sie erinnere:


    Sei's so

    Rabbi Jaakob Jossef, der Raw von Polnoe, wurde einmal eingeladen, als Gevatter an einer Beschneidung in einem nahen Dorf teilzunehmen. Als er hinkam, fehlte ein Mann zur erforderlichen Zehnerschaft. Der Zaddik wurde sehr unwillig, dass er warten musste - es verdross ihn stets, wenn er genötigt war zu warten. Da seit dem Frühmorgen ein heftiger Regen niederging, gelang es lange nicht, eines Wanderers habhaft zu werden. Endlich sah man einen Bettler des Wegs kommen., Aufgefordert, als Zehnter bei der Zeremonie zugegen zu sein, erwiderte er: "Sei's so" und kam herein. Als man ihm warmen Tee anbot, sagte er "Sei's so." Nach der Beschneidung lud man ihn zum Mahl und bekam die gleiche Antwort. Zuletzt fragte ihn der Hausherr: "Warum wiederholt Ihr denn immerzu dasselbe?" "Heißt doch im Psalm", sprach der Mann, "Heil dem Volk, dem es so geschieht!" Schon war er aber allen Augen entschwunden.
    In der Nacht darauf konnte der Rabbi von Polnoe keinen Schlaf finden. Immer wieder hörte er den Bettler jenes "Sei's so" sprechen, bis ihm offenbar wurde, das könne kein anderer gewesen sein als Elija, der kam, um ihm seinen Hang zum Unwilligwerden zu verweisen. "Heil dem Volk, dem es so geschieht!" flüsterte er und schlief sogleich ein.


    Der Rat

    Im 13. Jahrhundert kam zu einem jüdischen Mystiker ein Schüler, der die Kunst der Hitbodeduth oder Meditation lernen wollte.
    "Bist du in einem Zustand völligen inneren Gleichgewichts?" fragte der Meister.
    "Ich denke", antwortete der Schüler, der fromm gebetet und gute Werke getan hat.
    "Wenn dich jemand beleidigt, fühlst du dich noch gekränkt? Wenn du Lob erhältst, weitet sich dann dein herz vor Vergnügen?"
    Der potenzielle Schüler dachte einen Moment nach und antwortete dann etwas einfältig: "Ich glaube, ich fühle mich gekränkt, wenn ich beleidigt, und stolz, wenn ich gelobt werde."
    "Dann gehe und praktiziere die Loslösung von weltlichen Leiden und Freuden noch einige Jahre länger. Dann kannst du zurückkommen, und ich werde dich in Meditation unterweisen." (aus "Der versteckte Garten" von Perle Besserman)


    Selbstgefühl

    Rabbi Chanoch von Alexander erzählte: "Im Hause meines Lehrers, des Rabbi Bunam, war es der Brauch, dass am Vorabend des Versöhnungstags alle Chassidim zu ihm kamen und sich ihm in Erinnerung brachten. Einmal, nachdem ich die Abrechnung der Seele vollzogen hatte, schämte ich mich, mich vor ihm sehen zu lassen. Dann beschloss ich aber, mitten unter den anderen zu kommen, mich ihm in Erinnerung zu bringen und sogleich eilends von dannen zu gehen. Das tat ich auch. Sowie er mich aber zurücktreten sah, rief er mich zu sich heran. Alsbald schmeichelte es meinem Herzen, dass der Rabbi mich anschauen wollte. In demselben Augenblick jedoch, als es meinem Herzen schmeichelte, sagte er zu mir. "Es ist nicht mehr nötig."


    So

    Der Zen-Meister Hakuin wurde von seinen Nachbarn geachtet, als einer, der ein reines Leben führte. Eines Tages entdeckte man, dass ein schönes Mädchen, dass in Hakuins Nähe wohnte, schwanger war. Die Eltern waren sehr erzürnt. Anfangs wollte das Mädchen nicht sagen, wer der Vater war, aber nach vielem Zusetzen nannte sie Hakuin. Wutentbrannt kamen die Eltern zu Hakuin, aber er sagte lediglich: "So?"
    Als das Kind geboren war, wurde es zu Hakuin gebracht, der inzwischen seinen guten Ruf verloren hatte, obwohl ihn das nicht sehr zu kümmern schien. Hakuin sorgte liebevoll für das Kind, beschaffte bei Nachbarn Milch und Nahrung und alles, was das Kind sonst brauchte.
    Nach einem Jahr konnte die junge Mutter es nicht mehr aushalten und sagte den Eltern die Wahrheit - der wahre Vater war ein junger Mann, der auf dem Fischmarkt arbeitete. Die Eltern des Mädchens gingen gleich zu Hakuin, erzählten ihm die Geschichte, entschuldigten sich umständlich, baten um Vergebung und nahmen das Kind zurück. Indem der Meister ihnen das Kind bereitwillig überließ, sagte er: "So?"