Überlegung

In eine Stadt, fern von Jerusalem, kamen einst zwei berühmte Rabbinen, eingeladen, dort das Gesetz Mose zu lehren und zu deuten.

Ein großer Meister der eine in der Auslegung der heiligen Gebote und Verbote, deren keines seinem Gedächtnisse fehlte, ein Mann von tiefem, grüblerischem Ernst und strengem Eifer; der andere fröhlicher Gemütsart und muntern Geistes, der gern in Bildern sprach und in Gleichnissen, die Schrift zu erläutern, und wohl auch ein artiges Märlein anzubringen wußte, wo es ihm zu passen schien.

Und es geschah, dass die meisten dem zuliefen, der in so ergötzlicher Art zu lehren verstand, und bei dem scharfsinnigen Meister der Satzungen immer weniger Hörer sich einfanden.

Unwirsch klagte er jenem seinen Verdruss über das seichte Volk, dem sein Unterricht nicht gefallen wolle. Da suchte ihn der andere zu trösten: „Höre mein Gleichnis: In die gleiche Stadt kommen zwei Krämer. Juwelen und köstliche Perlen verkauft der eine, bunten und billigen Kram, Schmuck und Spielzeug für das niedere Volk der andere. Zu welchem, meinst du wohl, wird die Menge laufen und um seinen Karren sich drängen?... Wahrlich," schloss er seine Rede, „die vielen, die zu mir kommen, erhöhen meinen Ruhm nicht, und die wenigen, die den Weg zu dir finden, setzen den deinen nicht herab."

Der Talmud (Sota), der diese Worte rühmt als von nachahmenswerter Demut erfüllt, berichtet nicht, was jener große Schriftgelehrte dem Freunde erwidert hat. War er aber ein rechter Schüler Schamairs, des Eifervollen, so dachte er in seinem Herzen: „Ihr Geschichtenerzähler... ihr Dichter und Schwätzer, zum Spiel für Kinder wollt ihr das Gesetz machen, das heilige... zu einer Ergötzlichkeit für den Pöbel... - und ging grollend hinweg und verließ jene Stadt voll Unmut.

Und dennoch waren es Geschichtenerzähler, Gleichnisredner und Dichter, die berufen wurden, der Menschheit auf tausend und tausend Jahre den geheimsten Sinn aller Lehre und aller Satzungen zu überliefern...

 

(Fromer/Schnitzer, "Legenden aus dem Talmud", Leipzig 1922)

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