Avesta IX - Yasna 31

Yasna 31

1. Wenn du redest, wie es Gott dir
ins Herz gibt,
ungern hören sich das an,
die, von Eigennutz beherrscht,
die Güte schmälern.
Aber wer sich hinauslehnt
über die engen Schranken seines Ich,
wird sich mitfühlend zu dir neigen.

2. Doch es ist oft so schwer,
in allem den rechten Weg zu finden.
Seht, darum bin ich zu euch gekommen,
nun überleget mit mir,
für euch und für mich, meine Menschenbrüder.
Seht hier vor euch mich!
Gott weiß es, wie ich mich sehne,
nach seinem Willen zu leben.

3. Aber schlägt nicht unsere Sehnsucht die Brücke
zu Gott und allem Göttlichen,
haben wir nicht ein Gefühl für die Wahrheit,
so wird es nur sein, daß wir uns bereiten müssen
voll Hingabe an das Gute,
immer weitere lichte Kreise um uns ziehend,
immer ferner das Dunkel verscheuchend.

4. Lehre mich, o Gott, mein Teil daran,
was mir zu wirken bestimmt ist,
was ich tun, und was ich lassen soll,
damit ich es wachen Herzens
voll begreife und niemals vergesse!

5. Nimm hin, du unbekannter Weiser,
der mich belehren könnte,
alles, was ich mein nenne,
der du den Weg mir weisest in jenes Reich,
das ich ersehne in den besten meiner Stunden!

6. O Gott, wie wunderbar,
daß dir die Güte den Gedanken gab,
es sollten diese hohen Räume sich breiten
und mit strahlendem Licht sich erfüllen,
und daß du atmen ließest den Geist
in dieser Weite!
Ja, er erfüllt sie,
und jeder Atemzug, deiner gedenkend, dehnt sie uns weiter.
Aber du bist je und bist immer,
bist immer der gleiche!

7. Das ist mir tiefstes Leben, mein Gott,
daß du der Sinn bist von allem,
Beginn und Vollendung,
das Sein dieser Welt
und ihr Innewerden.
Kern dessen, was wir als Bestes in uns fühlen,
und Quell des überströmenden Lebens,
das uns so flutend umwallt.

8. Geist und Welt,
sonst so geschieden,
in dir sind sie eins.
Und kommt uns und wird uns zu teil,
und wir konnten von uns aus
doch nichts dazu tun.

9. Aber wie wenige bedenken das!
Wenn sie nehmen, so glauben sie, daß sie haben
und betrügen sich doch selbst;
denn nur wer dir sich gibt,
der hat in Wahrheit alles.

10. Gott, im Anfang der Welt
sprühte es wie Funken deines Geistes,
und das Besondere wurde daraus
und fühlte sich als sich selbst Bewußtes!
Diese Seelen hülltest du in Leiber,
und nun konnten sie ihre Werke schaffen
und im Gedanken ihres Willens leben.

11. Doch sieh, nun erhebt sich
ein Gewirr von Stimmen,
ein Durcheinander ertönt!
Die einen gedenken der Treue an dich
und hängen dir an und rufen dir zu;
die anderen vergessen, was du gegeben
und verlassen dich und rufen Verrat.
Zu denen aber, die noch schwankend sind,
da geht von einem zum andern
verschwiegen redend das Denken.

12. Aber du, in leuchtender Klarheit
über allem,
blickst hernieder und hinein
in alle Falten ihres Herzens,
auch wenn sie es noch so ängstlich verbergen!
ja, auch dir, du lautester Lärmer,
dem für ein kleines Übel
gleich nicht die Welt genug ist!

13. Aber, Herr, ach, ich bin mitten darin,
darum frage ich dich:
wie ist es damit
jetzt und für alle Zukunft?
Steht, was Gutes getan wird
und was im Bösen geschieht,
wie in einem Buch
für eine letzte Abrechnung?

14. Das frage ich dich,
wie wird es nicht vergessen,
daß man dem Schlechten zur Gewalt hilft,
daß sie sich nähren
vom Raube an Menschen, Tier und Land?

15. Das frage ich dich,
ob überhaupt im Guten
eine Möglichkeit des Wirkens liegt,
ob in der Welt
nicht doch nur die Klugheit gilt?

16. Ja, o mein Gott,
kommt man nicht so allein
oft nur zum Ziel,
daß ich im Anblick der Welt
oft schreien möchte:
ist denn wirklich bei all dieser Lüge
die Wahrheit das Bessere,
und muß ich nicht einstimmen
in ihr Heulen?
Gott, verlasse mich nicht,
mache mich stark in dieser Anfechtung!
Gib mir Kraft!

17. Nieder mit dir, du bäumender Gedanke,
mit dem Schwert an diese Kehlen!
Denn seht doch hin,
kommt dabei innerer Frieden
über Haus und Gemeinde,
Vaterland und Welt?

18. Heilt man das tiefste Leben
mit der Sucht nur nach Äußerem?
Nur wer weiß, aus welcher Quelle es kam,
reicht sich vom ewigen Bronnen,
und nur sein Trost ist wahres Erquicken.
Einst sprühten die Funken,
aber es wird wieder eine Flamme werden.
Das Bessere und das Böse:
zwei Hölzer, die sich reiben,
aber das Feuer ist gut, nur gut!

19. Tritt nun hierhin oder dorthin,
sei Rauch oder Flamme,
sei niedergedrückt, erstickend in Qualm,
oder laß dich lodernd emportragen.
Dort bist du! Dein ist die Wahl!

20. Aber wisse, daß du nicht wählst
zwischen Gott und dem Bösen.
Wenn du noch wählen müßtest,
weißt du noch garnichts von ihm,
denn Gott ist höher und tiefer -
er gibt beständig:
im Gefühl eine nimmer vergehende Welt,
der Wahrheit sicheren Frieden,
den Frieden seines Geistes.
Hast du das alles gewählt?

21. Wer dies in sich erfuhr,
was sollen ihm meine Worte?
Er weiß, und sein Leben
ist wie ein Gebet.
Und wahrlich, Gott weiß,
was er an ihm hat.

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Kommentare: 2
  • #1

    Clemens (Freitag, 29 Mai 2020 20:09)

    Hier die Vollversion von Yasna 31. Wir hatten schon mit Vergnügen eine gekürzte Version in der WhatsApp-Gruppe und im Blog gelesen.

    Ich bin dabei, die siebzehn Gesänge (Gathas) aus der Anbetung (Yasna) zu erfassen. Da der Autor in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts verstarb, sollten die Übersetzungen copyrightfrei sein. Hat da jemand andere Informationen?

    Ich könnte die Texte als pdf-Datei verfügbar machen. Oder wir könnten ein kleines Büchlein draus machen.

  • #2

    Ruth Gabriel (Samstag, 30 Mai 2020 11:18)

    Das ist eine gute Idee.
    Büchlein ist natürlich schicker...^^