Die lieben Toten - 01. Februar 2016

Ich weiß nicht, wie ich drauf gekommen bin, aber plötzlich gedachte ich heute früh bei der Arbeit "meiner" Toten. Es sind ja doch schon nicht wenige, die in meinem Leben mal mehr oder weniger lange mehr oder weniger wichtig waren und zwischenzeitlich verstorben sind. Einige Seltsamkeiten sind mir aufgefallen:


Der Tod färbt sie alle irgendwie rosig. Alle fehlen irgendwie. Das Endgültige macht sie unentbehrlicher, als wenn sie noch da wären, denn dann könnte ich ja immer noch Kontakt aufnehmen - nächstes Jahr oder in zehn Jahren.


Interessanter aber, dass ich bei allen das Gefühl habe, dass, wenn ich jetzt mit ihnen reden würde, nur wenig fehlen würde, um sie zu einem "besseren", erfüllteren, langlebigeren Leben anleiten zu können. Nur ein paar Worte. Ein Aufrütteln.


Bei denen, die leben, habe ich so nicht das Gefühl.


Warum hat X. sein Leben lang so schwer geraucht, dass er an Lungenkrebs starb? Könnte ich 35 Jahre zurück - würde er sich überzeugen lassen nicht zu rauchen? Realistisch betrachtet wohl eher nicht. Dann wäre er ein Lebender und wohl unerreichbar. Könnte ich zurück bis kurz vor seinem Tod, dann würde er annehmen, wenn ich sagen würde: "Ich mache, dass Du nicht geraucht hast und jetzt weiterlebst." Das passt ja jeder AP. Volle Leistung, null Einsatz. Vielleicht würde X. sogar freudig zu rauchen anfangen sobald ich weg wäre. Und so weiter...


Oder Y. - was war so schlimm, dass Du Dich vor eine S-Bahn werfen musstest? Unsere letzten Kontakte konntest Du nicht aushalten. Wenn ich jetzt am Tag vor Deinem Tod nochmal mit Dir reden könnte, könnte ich Dir irgenwie weiterhelfen? Oder 15 Jahre früher, als ich Dich kennenlernte?


Und Z. - Deine schräge Lebensführung habe ich jahrzehntelang miterlebt. Was hätte ich mehr und besser tun können und müssen?


Egal, das nur als Beispiele. Es ist ein weites Feld und ich vermute fast, dass das bei allen so ist, die wie ich so um die 50 sind. Was wird aber daraus vor allem deutlich? Die Lebenden sind einerseits unsere Aufgabe (zumindest ein Teil davon) und andererseits eben eigentlich superschwer erreichbar. Das auszuhalten und dann noch den rechten Weg finden...


(Einschub: Wie leicht man dagegen an sich selbst arbeiten kann. Wie schnell man Erfolge sieht. Die reine Freude!)


Was will ich damit sagen? Ich bin da zu keinem glänzenden, vorzeigbaren Ergebnis gekommen. Keine Schlussfolgerung, auf die alles hinauslief. Trotzdem war der "Gedankenzyklus", der über mehrere Stunden verlief, keine verschwendete Zeit, nicht uninteressant. Es gab unzählige Nebengleise. Wie wenig ich eigentlich von all den Menschen weiß und wusste. Von Lebenden wie Toten. Vieles, was ich zu wissen glaubte, erschien mir endlos flach und häufig auf Fehleinschätzungen zu beruhen.


Den Hinübergegangenen (oder einigen davon) - wenn/falls sich die Wege einmal wieder kreuzen - kann ich dann hoffentlich mehr geben. Bei den Lebenden? Ich will versuchen, genauer hinzuschauen. Und wieder, und wieder. Alles und alle sind wertvoll...

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Kommentare: 2
  • #1

    Clemens (Montag, 25 Mai 2020 20:17)

    Vor ein paar Tagen las ich dieses Zitat - ich weiß nicht mehr von wem:

    "An den Gräbern lernen wir, dass wir zu wenig geliebt haben."

  • #2

    K (Sonntag, 31 Mai 2020 08:27)

    " Was hätte ich mehr und besser tun können und müssen?" Das finde ich eine wichtige Frage. Nicht nur bei den Toten, auch bei den Lebenden. Tue ich genug, gebe ich genug Anregungen in eine positive Richtung ohne mich Aufzudrängen (hier ist die "Geschicktheit der Mittel" gefragt) Oder halte ich mich aus Bequemlichkeit zurück oder weil ich mich zu sehr absorbieren lasse von eigenen "Problemen"?
    Möglicherweise könnte ich immer noch mehr tun und die andere Person könnte immer noch mehr Verantwortung für das eigene Leben übernehmen und ich natürlich auch für meins...
    Da gibt es nicht die pauschale Antwort, nur das ständige Bemühen um den Rechten Weg...