Wie ein Holzklotz

Da ich nicht einen Augenblick lang die Aufgabe,
Der Entwicklung meiner tiefen Konzentration vernachlässigen will,
Werde ich meinen Geist in jedem Augenblick untersuchen,
Um zu sehen: "Womit befasst sich mein Geist gerade?"
Aber wenn ich nicht in der Lage bin das zu tun,
Weil ich mich in einer Furcht erregenden Situation befinde,
Oder bei der Darbringung eines rituellen Festmahls oder dergleichen,
Lasse ich den Geist sich mit dem beschäftigen,
Was in der Situation gerade angemessen ist.
Daher wird gelehrt, dass man in Zeiten,
In denen man mit dem Geben beschäftigt ist,
Gleichmut gegenüber der ethischen Disziplin walten lassen darf.
Nachdem ich etwas erwogen und es dann begonnen habe,
Werde ich an nichts anderes mehr denken als an diese Aufgabe.
Dann, mit meinem Herz auf diese Aufgabe gerichtet,
Werde ich eben diese als allererstes vollenden.
Wenn ich in dieser Weise vorgehe,
Werden alle Aufgaben gut beendet;
Ansonsten wird keine der Aufgaben zu einem Ende gebracht.
In eben dieser Weise wird der abgeleitete störende Faktor,
Die mangelnde Wachsamkeit, niemals zunehmen.
Wenn sich verschiedene Arten sinnloser Gespräche
Und zahlreiche Spektakel wundersamen Amüsements
Um mich herum ereignen,
Werde ich mich von aller Anziehung an diese lösen.
Wenn ich grundlos in der Erde herumstochere,
Grashalme ausrupfe oder Muster in den Sand male,
Werde ich, aus Furcht vor den Folgen solcherlei Tuns
Sofort damit aufhören,
Indem ich mich an die Ratschläge
Der Glückselig Gegangenen (der Buddhas) erinnere.
Wenn auch immer ich den Wunsch verspüre,
Meinen Körper zu bewegen oder etwas zu sagen,
Werde ich zunächst meinen Geist untersuchen,
Und dann mit Entschlossenheit handeln,
Angepflockt an das, was ethisch richtig ist.
Wenn ich bemerke, dass mein Geist anfängt
Mit der Anhaftung Kompromisse zu schließen,
Oder sich diesem Handeln mit Ärger entgegenstellt,
Werde ich mich kein Stück weit bewegen,
Werde ich kein Wort sagen.
Werde ich wie ein Holzklotz verharren.
Wenn mein Geist überreizt und sarkastisch ist,
Voll der Arroganz und Verachtung,
Die Absicht hat, andere lächerlich zu machen,
Oder gierig, heuchlerisch oder hinterlistig ist,
Wenn ich gerne mit meinen Eigenschaften prahle,
Oder andere kritisiere,
Und wenn ich mich beleidigend und streitsüchtig verhalte,
Werde ich in solchen Augenblicken wie ein Holzklotz verharren.
Wann auch immer sich mein Geist nach materiellem Gewinn,
Der Bezeugung von Respekt, und dem Erlangen von Ruhm sehnt;
Oder nach der Fürsorge von Bediensteten und Anhängern verlangt,
Oder sich danach sehnt, bedient zu werden,
Werde ich in solchen Augenblicken
Wie ein Holzklotz verharren.
Wenn mein Geist die Ziele anderer verwerfen möchte,
Und sich allein um meine eigenen Ziele kümmern möchte,
Oder sich wünschen sollte, etwas zu sagen,
Dann werde ich in solchen Situationen wie ein Holzklotz verharren.
Wann auch immer mein Geist ungeduldig, faul und feige ist,

Oder auch übermäßig selbstbewusst und lärmend und voller Unsinn,
Oder trotzköpfig an dem anhaftet, was zu meiner Seite gehört,
Werde ich in solchen Situationen wie ein Holzklotz verharren.
Nachdem ich meinen Geist in dieser Weise auf störende Emotionen
Und sinnlose Unternehmungen hin untersucht habe,
Nehme ich all meinen Mut zusammen und werde ihn ,
in solchen Augenblicken mit Hilfe von Gegenmitteln stabil halten.
Wenn mein Geist fest entschlossen
Und glücklich von der Wahrheit überzeugt ist,
Sich gefestigt, respektvoll und höflich verhält,
Wenn er Selbstwürde in Bezug auf Moral und Furcht besitzt
Zur Ruhe gekommen ist
Und danach strebt, andere glücklich zu machen,
Und da mein Geist sich niemals
Von den widersprüchlichen Launen kindischer Leute entmutigen lässt,
Weil er begreift, dass diese Launen deshalb entstehen,
Weil die Leute störende Emotionen in ihrem Geist entwickelt haben,
Entfaltet er ihnen gegenüber ein Gefühl des Wohlwollens,
Und wenn mein Geist
Beeinflusst durch Gedanken
Über mich selbst und diese Wesen,
Sich mit Dingen befasst,
Die niemals schändlich sind,
Dann werde ich diese Geisteshaltung stets beibehalten
Ohne stolz auf mich selbst zu sein,
Wie eine magische Erscheinung.
Dadurch, dass ich lange darüber nachgedacht habe,
Dass ich diese unvergleichliche Ruhepause erlangt habe,
Werde ich, so unerschütterlich wie der König der Berge,
An dieser Geisteshaltung festhalten.

 

(aus Santideva - "Eintritt ins Leben zur Erleuchtung")

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Kommentare: 3
  • #1

    Rudi (Sonntag, 03 Mai 2020 15:42)

    Schöner Text. Allein schon lesen tut gut.

  • #2

    Ruth Finder (Sonntag, 03 Mai 2020 15:48)

    Der Legende nach hat Shantideva seine ganze! Botschaft an die Mönche komplett frei gesprochen.

    In der Schule musste ich vergleichbar lange Texte (Gedichte, Sagas) auswendig lernen. Aber mit viel weniger Gehalt und Sinn.

    Wäre es nicht sinnvoller, solche Art Schulstoff zum Auswendiglernen anzubieten, zumindest für die höheren Schuljahrgänge/Ausbildung/Uni? ;o)

  • #3

    Ruth Finder (Sonntag, 03 Mai 2020 16:12)

    Ich habe einmal vor Jahren in einem Brief an jemanden geschrieben, dass ich in der letzten Zeit einiges gelernt und erkannt habe, ich müsse das jetzt nur umsetzen. Die Antwort darauf war: "Ja, linear gedacht, aber linear richtig." Ich habe damals über diese Antwort gestutzt. Nach dem Motto "ich muss doch eins und eins zusammenzählen". Inzwischen sehe ich, dass die Antwort stimmte und meine Rechnung nicht (so) richtig aufgegangen war. Und obwohl ich schon selten einmal das als wichtig und richtig Erkannte schnell umgesetz habe, ist aber ganz vieles ein schönes Stück Flickarbeit geblieben... bis jetzt und in den verschiedensten Variationen auf die Drei Säulen bezogen.

    Im Alltag REAGIEREN wir - obwohl man es eigentlich besser weiß - auf die Situationen und Begebenheiten wie gewohnt und leider oft zu schnell aus der AP-Perspektive - eben gewohnheitsmäßig, ohne nachzudenken, statt das Erkannte anzuwenden und bewusst aus der HS-Perspektive zu AGIEREN. Man wird sozusagen getriggert und schießt sofort los: Man schießt eben aus der Hüfte und nicht aus den höher liegenden (Verstand+Herz) Körpeteilen. Dabei schießt man sich auch oft ins Knie. ^^

    Das Thema beschäftigt mich schon lange. Und so würde ich an dieser Stelle deuten, dass dieses "wie ein Holzklotz verharren" in einer konkreten alltäglichen Situation unter anderem bedeuten würde, kurz innehalten, um sich zu errinnern und zu besinnen. Wir müssen, wie es sehr schön bei Shantideva heißt, "diese unvergleichliche Ruhepause erlangen", statt vom Ego zum bloßen, gewohnten Aktionismus angestachelt zu werden.

    Das Gelöbnis von Shantideva ruft uns zu Beharrlichkeit auf, das Erkannte immer wieder in Errinerung zu rufen und anzuwenden. Dazu, die als richtig erkannte Geisteshaltung "stets beibehalten", an ihr "festhalten".